Unser Abendprogramm – eine Familientragödie in drei Akten

Prolog

Zu Hause setzt bereits der Abendwahnsinn ein,
Die Kleine rollt sich gleich mit hohen, spitzen Schrei‘n
In einen Vorhang ein zu einem dicken Ball‘n
Und läßt sich samt Gardine auf den Boden fall‘n.

So heißt es in Reinhard Meys Lied „Aller guten Dinge sind drei“, die Hymne für alle fünf- und mehrköpfigen Familien. Wie wahr sind seine Worte, und besonders der Begriff „Abendwahnsinn“ trifft es und geht mir jeden Tag ab ca. 17:30 Uhr durch den Kopf. Ehrlich gesagt möchte ich gerne um diese Zeit das Haus verlassen und erst wieder gegen 21 Uhr eintreffen, geht aber leider nicht. Anton wäre vermutlich ein wenig verärgert. Und so möchte ich euch heute gerne von gestern erzählen, denn am ersten Juni steigerte sich der Abendwahnsinn zum Ausmaß einer griechischen Tragödie in drei Akten, um deren Handlungsplot uns Aristoteles und Co beneidet hätten.

Erster Akt: bitte zum Essen kommen!

Gerade noch hatten Anton und ich uns nach dem Kinderturnen von anderen Eltern verabschiedet und allen einen ruhigen Abend und liebe Kinder gewünscht, da begann das Drama bei uns. Auf dem Heimweg fielen Jimmy und Luise alle beide hin und heulten einträchtig mit Baby Oskar. Zuhause wurde die Laune nicht besser, weil die von Bekannten geschenkten Seifenblasen ausprobiert und dann entsprechend dem Seifenblasenkindergesetz verschüttet wurden („Jimmy, halt sie geraaade!“). Ich war nun sauer, denn der Balkon war ausgerechnet heute von mir persönlich gewischt worden. Ebenfalls schlecht gelaunt und müde vom Turnen verhielten sich die Kinder auf die Einladung zum Essen hin ganz so, wie wir es von ihnen gewohnt sind: sie ignorieren das Rufen und kommen nicht an den Tisch.

„Luise und Jimmy, kommt bitte zum Essen!“ (Ton freundlich und respektvoll, Jan Uwe Rogge-Stadium)

Luise und Jimmy kommen nicht.

„Hallo, Kinder, das Essen ist fertig! Ihr habt doch sicher Hunger nach dem Turnen…. Und wir möchten gerne mit euch zusammen an einem Tisch sitzen.“ (Ton kameradschaftlich, auf Augenhöhe, Jesper Juul-Stadium)

Luise und Jimmy kommen nicht.

„Ihr beiden, wenn ihr nicht bald erscheint, wird es zu spät, dann bleibt keine Zeit für das Sandmännchen!“ (Erste kleine Drohung, aber mit Erklärung der Konsequenzen, Supernanny-Stadium)

Ihr ahnt es, Luise und Jimmy kommen nicht.

„Jetzt werde ich wirklich sauer! Kommt sofort zum Essen, sonst gibts hier gleich richtig Theater!“ (Stimme schlägt aggressiven Ton an, Drohung ohne Sinn, Erläuterung des elterlichen Gefühlstadiums, Fräulein Rottenmeier-Stadium)

Nachdem Anton Luise aus dem Kinderzimmer und Jimmy vom Computer weg geschleift hat (das Kind trägt stundenlang die Geburtsdaten sämtlicher Kuscheltiere und Fußballhüpfer aus dem Kaufland in den digitalen Kalender ein, what the f***), sitzen endlich alle vier am Tisch. Baby brüllt und bekommt etwas zu Essen, Mutter sitzt hungrig, wütend und ohne eine freie Hand auf der Bank.

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Zweiter Akt: Das Abendessen

Was nun geschieht, gebe ich verkürzt wieder: Jimmy will keine Spinatpfannkuchen; Jimmy will Saft. Jimmy bekommt nur Schorle, schnappt sich aber Glas, nachdem Papa einen Schluck Saft einschüttet. Papa schimpft, Jimmy schlabbert. Jimmy hat einen Tropfen auf dem T-Shirt, heult und zieht T-Shirt aus. Jimmy friert. Mama sagt, er solle sich nicht so anstellen oder sich ein neues T-Shirt holen. Jimmy will, dass Mama T-Shirt holt. Mama rollt mit den Augen, Jimmy weint. Nun spürt Jimmy ein Kratzen am ganzen Körper, weint mehr und juckt sich, beginnt, theatralisch zu bibbern. Anton schmiert Jimmy ein Wurstbrot, Jimmy will keine Wurst, er will Käse.

Käse ist das Stichwort. Luise will einen Käsebeller (Babybel), packt ihn aus, steckt ihn in den Mund, spuckt ihn aus, schreit Bäääh. Mama schimpft. Luise will keine Spinatpfannkuchen, sie will zu Papa auf den Schoß. Papa will in Ruhe essen und verneint freundlich. Mama übergibt Baby Oskar an Papa, um endlich auch was in den Mund zu kriegen. Luise weint laut. Warum darf Oskar auf Papas Schoß, sie aber nicht?! Luise steigt zu Mama auf die Bank, die macht ihr ein Leberwurstbrot und ein paar Gurkenscheiben, letztere fallen allesamt in die Lücke zwischen die Bank. Oskar schreit, will mehr essen. Luise schreit, will nicht so viel essen.

Jimmy schreit, er will Nachtisch. Mama sagt, Nachtisch gibts erst, wenn der Teller leer ist. Luise steht zum dritten Mal vom Stuhl auf, Mama ruft, dass Essen für sie nun beendet ist. Luise weint, will Nachtisch. Anton tauscht Jimmys leeren Teller gegen zwei süße Gummigespenster, Jimmy brüllt, dass er von Mama immer drei bekommt. Luise liegt auf dem Boden, will auch Gummi-Gespenster, bekommt aber keine.

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Dritter Akt: Ab ins Bett

Die Tragödie nähert sich unweigerlich ihrem Höhepunkt. Das Insbettbringen ist für uns der letzte erzieherische Akt des Tages und verläuft nur selten ohne Verzögerungen, Streit und Gebrüll. Nachdem Luise und Jimmy ihr Sandmännchen geschaut haben, verschwinde ich mit Baby Oskar ins Schlafzimmer: Wickeln, Stillen, Beruhigen, das Baby hat die bekannten Schreistunden.

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Schreistunde ist auch bei Anton angesagt, er möchte, dass sich die Kinder die Zähne putzen- es funktioniert ähnlich gut wie die Aufforderung, an den Tisch zu kommen. Ihm platzt der Kragen und er beginnt sofort im Rottenmeierstadium, überspringt dabei die pädagogisch wertvollen und gemäßigten Erziehungsmethoden. Nachdem Luise mich noch drei Mal im Schlafzimmer stört, als Oskar gerade so eingeschlafen ist, tut Papa das, was er wirklich nur selten tut: er brüllt und erklärt die GuteNacht-Geschichten für gestrichen. Rumms, wird der Rolladen runter gezogen, die Kinder ins Bett verfrachtet und das Licht ausgemacht. Nun höre ich, wie Anton aufs Sofa plumpst und im Kinderzimmer ein Geheule ausbricht in Lautstärke dreier Düsenjets.

Nach 10 Minuten verebbt das Gebrüll, Oskar schläft, Jimmy und Luise schluchzen, Papa sitzt erschöpft in den Kissen und schenkt sich ein Glas Wein ein. Meine Wut ist verraucht und so gehe ich noch einmal zu den Großen und sage „Gute Nacht“ und höre mir dabei die Geschichte aus Jimmys Sicht an.

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Das Ziel einer Tragödie war gemäß Aristoteles der Sinneswandel beim Zuschauer: so sollte eine „Reinigung“ (Katharsis) von bestimmten Gefühlen eintreten. Durch das Durchleben von Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder (…) erfährt der Zuschauer der Tragödie eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen…“ sagt Wikipedia zu meiner Befragung nach dem Sinn der Tragödie. Wetten, es hat euch ordentlich geschauert? Ich hoffe, ich konnte mit meiner Wiedergabe unseres gestrigen Abends zur Seelenläuterung meiner Leser beitragen. Oder zumindest zu der Gewissheit, dass sich auch in anderen Häusern Tragödien griechischen Ausmaßes abspielen, jeden Abend so 17:30 Uhr.

Laura

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