Der Tag, an dem ich Hänsels Mutter traf…

Lach- und Krachgeschichten

Neulich, ich hatte gerade Jimmy und Luise in den Kindergarten gebracht, lief ich durch unseren Ort und sah auf der Bank neben dem Rathaus-Brunnen eine Frau sitzen. Sie kam mir bekannt vor, und ich dachte scharf nach. Singt sie in meinem Chor, oder sitzt sie im Supermarkt an der Kasse? Ich kam nicht drauf, nahm aber dennoch neben ihr Platz. Sie erkannte mich auch nicht, war aber sichtlich niedergeschlagen und traurig. Als ich ihr ein Taschentuch reichte, und sie mir in die Augen sah, fiel es mir ein: sie war die Mama von Hänsel und Gretel! Die Frau aus Jimmys Märchenbuch! Die mit der praktischen Kurzhaarfrisur und der knallfarbenen Outdoorjacke!
„Dass Sie hier wohnen, hätte ich nicht gedacht!“, äußerte ich erstaunt. Dann fragte ich sie nach ihrem Kummer. „Die Kinder sind weg…“ schluchzte sie, und schnäuzte ins Taschentuch. „Aber sie haben sie doch selbst in den Wald geschickt!“, antwortete ich erbost. Wie konnte sie diese Grausamkeit vergessen haben! Jeden Abend beim Vorlesen wunderte ich mich über diese Märchenfigur, die ihre Kinder in der Dunkelheit aussetzte, wohlwissend, dass dort die fiese Hexe lauert. Nur, damit sie und ihr Mann wieder genug zu Essen haben. „Aber so war das doch gar nicht“, heulte sie. „Es ging doch um etwas ganz Anderes!“

Und dann erzählte mir Margret Schieferle, so heißt die arme Frau richtig, die ganze Geschichte:
„Hänsel und Gretel sind überhaupt nicht so lieb und brav, wie die Grimms die ganze Welt glauben lassen. Sie sind sogar ziemlich oft ungezogen. Und das Schlimmste: sie streiten den ganzen Tag. Sie schubsen sich im Wartezimmer vom Kinderarzt, sie treten sich in der Bücherei, sie zwicken sich, wenn ich sie vom Kindergarten abhole, und sie nehmen sich zuhause ihrer Spielsachen weg. Meine Nerven liegen blank. Neulich geschah dann Folgendes: ich musste mit den Beiden in den Drogeriemarkt. Gretel brauchte dringend neue Windeln und Feuchttücher. Weil sich die Kinder aber immer darum streiten, wer im Einkaufswagen sitzen darf, habe ich beiden einen Mini-Wagen spendiert. Wir hatten es eilig, weil wir Papa abholen mussten. Hänsel ließ immer wieder seinen Wagen mit Anlauf durch die Flure sausen. Es war an diesem Samstag so voll, dass er jedes Mal einen anderen Kunden traf. Auch Gretel fuhr den Leuten mit Anlauf in die Wade. Obwohl ich „langsam“ rief, hörten sie nicht. Gretel schubste ein Kind vom Schaukelpferd, um sich selbst aufzuschwingen. Runter kam sie nicht mehr, und fing an zu heulen. Hänsel legte sich außer dem versprochenen Badezusatz noch diverse bunte Kinderseife in den Wagen und brachte sie auf meine Bitte nicht wieder ins Regal. Gretel, die inzwischen vom Pferd gefallen war, rannte auf Hänsels Wagen zu, kippte ihn um und düste mit dem grünen Badezusatz davon. Das ließ sich Hänsel nicht gefallen, rannte hinter ihr her, stellte ihr ein Bein und schmiss sich auf sie .

Um uns herum standen die Leute, schauten zu uns her und schüttelten empört die Köpfe. Ich packte Hänsel und Gretel am Schlafittchen, setzte sie in meinen Wagen und flitzte zur Kasse. Mein Herz raste, ich zitterte vor Wut und mein Kopf war schamesrot. Den Kopf gesenkt, bezahlte ich Windeln und Gummibärchen, rannte aus dem Laden und spürte die Blicke der Anderen in meinem Rücken.
Im Auto angekommen brüllte ich wie am Spieß. Endlich war ich mal an der Reihe. Dann fuhr ich zum Kappelberg und hielt am Waldparkplatz, wo ich die Gummibärentüte aus der Tasche nahm. Ich legte eine Bärenspur, etwa 3 Kilometer weit. Setzte Hänsel und Gretel aus dem Auto, sprang hinein und fuhr schnell los.“

Mit offenem Mund starrte ich Margret an. Jetzt verstand ich! Mal wieder hatten irgendwelche unsensiblen, kinderlosen Typen alles so rum gedreht, dass an Ende die Mutter wieder schuld war. Jakob und Wilhelm hatten nämlich keine Ahnung, was es heißt, einen Jungen und ein Mädchen groß zu ziehen. ICH jedenfalls konnte Margret gut verstehen. Auch ich hatte in meinen schwächsten Stunden darüber nachgedacht, meine Kinder mit Süßigkeiten irgendwohin zu locken, wo ich ihr Geplärre für eine Weile nicht ertragen muss. Ich nahm ihre Hand und lud sie zu einer Tasse Kaffee zu mir nach Hause ein. „Die Kinder finden wir schon wieder, da bin ich mir sicher.“

Und tatsächlich, zwei Tage später, rief Margret erleichtert bei  mir an. Eine alte Frau mit Warze auf der Nase hätte Hänsel und Gretel bei der Polizei abgegeben mit dem Hinweis, dass diese beiden Zankhähne keine 24 Stunden zu ertragen seien. Trotzdem war Margret froh, dass sie die Kinder wieder hatte.

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