Dreh dich nicht um, der Sensenmann geht um

Lach- und Krachgeschichten

Bei uns sitzt seit längerem ein unangenehmer Geselle mit am Tisch: der Sensenmann mit dunkler Kapuze und scharfer Klinge am langen Holzstab, und mir weht der kalte Hauch seines Atems im Nacken. Dank Jimmys unbändigem Wissensdrang befassen wir uns tagtäglich mit dem Tod. Alles begann, als er als Baby zur Taufe eine Kinderbibel geschenkt bekam. Seit einiger Zeit ist er seiner Meinung nach nun alt genug, um sich dem Alten und Neuen Testament in kindgerechten Texten und Bildern zu widmen. Er betreibt allerdings die ganze Exegese auf seine eigene Art und nähert sich mit Vorliebe allen abgründigen Themen. Wir leben seit ein paar Jahren in einer katholisch italienischen Enklave, in der Maria sowie deren Anbetung einen hohen Stellenwert einnimmt. Für die Mutter Gottes hatte Jimmy schon immer einen besonderen Faible, wie ich hier vor längerer Zeit berichtete. Neben unserer großen Kirche befindet sich die Nachstellung der Szene vor der Kreuzigung, in der Jesus neben den schlafenden Jüngern kniet und betet. Da wir hier täglich vorbei gehen, haben wir ziemlich oft besprochen, warum der Jesus eben nicht schläft und wer denn nun diese Römer sind, die da von weitem angerannt kommen.

So weit, so gut. Wir sind sicher nicht die einzige Familie, in der sich ein Kind in besonderem Maße für die Bibelgeschichten interessiert und eine Mutter insgeheim hofft, dass hier nicht ein angehender (katholisch und im Zölbat lebender) Pfarrer heranwächst. Dennoch erschreckte ich mich sehr, als wir gemeinsam in der Küche saßen, ein Stück Kuchen mampften und Jimmy unverblümt feststellte: „Wenn Papa tot ist, sind wir noch zu dritt.“ Klar, mit dieser Tatsache hatte er recht. Dennoch befasse ich mich nicht so gerne mit solcherlei Schicksalsschlägen, schon gar nicht bei strahlendem Sonnenschein und einer Tasse Milchkaffee. „Wie kommst du darauf?“, fragte ich entsetzt. „Papa ist doch noch jung, der stirbt doch nicht.“ „Jesus ist auch mit 33 gestorben“, antwortete Jimmy ohne jede Gefühlsregung, und mir fiel erstmal der Kuchen aus dem Mund.

Seit diesem Tag treffen mich morgens unter der Dusche, auf der Fahrradtour oder beim sonntäglichen Kuscheln im Bett Fragen, die zwar berechtigt, aber schwer zu beantworten sind. „Welche Zahl bist du, Mama, wenn du tot bist?“ oder „wie sieht es im Himmel aus?“. Dann höre ich mir mit Vergnügen an, dass Jimmys Meinung nach jeder eine Gitarre bekommt, wenn er denn mal im Himmelreich angekommen ist, und wir alle Vier dort täglich und dauernd gemeinsam auf unseren Klampfen musizieren werden. Aber mir ist auch ein bisschen flau im Magen und es hilft nicht besonders, dass wir direkt nebem dem Friedhof wohnen.

Da ich selten eine Antwort auf seine das Jemseits betreffende Fragen weiß, und Jimmy sich auch einfach nicht vorstellen kann, dass vorn dort noch keiner zurück gekommen ist, schlagen wir die Kinderbibel auf und ich fange bei der Geburt Jesus an, um mal ein paar grundlegende Dinge zu klären. Wir blättern weiter zur Taufe durch Johannes. „Nein“, ruft Jimmy, das kannst du überspringen. „Mach weiter mit dem Kreuz.“ Der sonst so sensible Kerl, der sich vor Katzen, Spatzen und Sandmännchen fürchtet, liebt das Morbide und Grausame. Jetzt gibt es abends um halb acht nicht länger Bobo-Geschichten, sondern lieber eine Runde Altes Testament. Die Geschichte von Kain und Abel wird ihm sicher gefallen, denke ich. Kein Wunder, dass Papa jetzt mit allerlei Waffen bedroht wird. „Ich schieß dich tot“, ruft Jimmy, und hält Anton beim Abendessen den Käse an die Schläfe.

Letztes Wochenende waren Onkel Peter und Tante Anja zu Besuch und fragten Jimmy, ob er denn auch wie Cousine Emma weit weg in ein anderes Land gehen wolle, wenn er mal groß ist. „Nein, ich bleibe immer hier wohnen“, antwortete der Knabe. Und fügte hinzu: „Auch dann, wenn Mama und Papa nicht mehr leben.“ Darauf habe ich mit einem großen Schluck mein Glas Sekt leer gemacht.

(Bilder aus der Coppenrath Bibel für die Kleinen, Coppenrath Verlag Münster 2009)

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