In was für einer Welt möchtest du leben? Mein Manifest gegen die Armut in einem reichen Land

Ich habe einen Traum. Einen Traum von einem Land, in dem es gerecht und sozial zugeht. In dem sich die Menschen bewusst sind über ihr Glück, in Frieden leben zu dürfen. Es drohen keine Hungerkatastrophen, keine Tsunamis oder Dürreperioden. Sie genießen die Vorteile der Demokratie und dürfen mitbestimmen, ihnen steht eine unabhängige Presse zur Verfügung und sie können ihre Meinung frei äußern, ohne ins Gefängnis zu kommen.

Ich träume aber auch von einem Land, in dem es gerechter zugeht. Ich träume davon, dass wir uns darüber im Klaren werden, wie wir leben wollen. Ich-Bezogen und auf unsere eigenen Vorteile bedacht oder in einer solidarischen Gemeinschaft, in der die Reichen den Armen geben und die Glücklichen den Unglücklichen unter die Armen greifen. In der wir uns gemeinsam um die kümmern, die wenig Geld haben, in Angst leben, krank oder einfach vom Schicksal gebeutelt sind. In der wir wissen, dass es uns jetzt gut geht, sich das aber ändern kann. Auch wir, die gesund, reich und glücklich sind, können dem Leben in die Finger geraten und ordentlich durchgewirbelt werden. Dann brauchen wir eine helfende Hand und Menschen, die solidarisch sind. In so einer Welt würde ich zu gerne leben.

Alleinerziehende in großer Not

Was ich genau damit meine, wenn ich hier solche Predigten halte? Ich lebe in einem schönen Land, aber vieles hier macht mich auch sehr traurig. Da wären die Alleinerziehenden, die zur Zeit ab und zu (und damit zu wenig) in der Presse eine Stimme finden. Sie sind enttäuscht vom Koalitionsvertrag, mit dem immer noch lange nicht genug dagegen getan wird, dass alleinerziehende Eltern laut Bertelsmann-Stiftung ein 68%-iges Armutsrisiko tragen. Damit dir und mir deutlich wird, was das bedeutet: Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten und wir stehen oft schneller ohne Partner da, als wir denken. Da verliebt sich der eine unsterblich und trennt sich von der Familie, es bricht ein unerträglicher Streit aus, es ereignet sich ein Unfall oder einer von beiden wird krank und stirbt – dann sind Eltern alleinerziehend. Das ist kein Stigma dafür, dass es ein Mensch nicht auf die Kette bekommen hat, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, sondern es ist eine unangenehme Wendung im Leben, die niemand gewollt oder vorgesehen hat. Und ganz wichtig: davor ist keiner gefeit. Nun leben dann also Mama oder Papa alleine mit Kind oder Kindern, sind oft entweder unglaublich sauer und enttäuscht oder unglaublich traurig und einsam, manchmal sogar beides zusammen. Dazu kommt, dass sie jetzt oft alleine für die Familie aufkommen oder zumindest alleine den Alltag bestreiten müssen. Wie können sie denn arbeiten gehen, wenn es immernoch nicht genug Kita-Plätze oder keine vernünftige Ganztagsschule gibt, in der ihre Kinder gut aufgehoben und betreut werden? Und warum tut die Regierung nicht genug, um diese Plätze zu schaffen? Wir Paare ackern uns schon einen ab, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Wie geht es Eltern, die nur mit der Hälfte unserer Man-Power auskommen müssen?

Und genau hier wünsche ich mir eine Regierung, die sich der Dramatik der Lage bewusst ist. 68% Armutsrisiko, das bedeutet eine ganze Menge Kinder, die nie in den Urlaub fahren, die keine Bücher und Stifte kaufen können, die vielleicht sogar unter Hunger und Vitaminmangel leiden müssen. Was ist das für eine Schande in einem so reichen Land wie Deutschland? Aber es gibt noch mehr Dinge, die anzugehen notwendiger wären als ein neuer Bahnhof oder ein funktionierender Flughafen. Alleinerziehende haben nicht nur einen wahren Demokratie-Berg zu bewältigen. Nein, die verschiedenen Sozialleistungen sind im dümmsten Fall so schlecht aufeinander abgestimmt, dass so mancher Zuschuss gleich wieder abgezogen wird. Da bemüht sich eine Mutter um den Unterhaltsvorschuss, weil der Vater nicht pünktlich zahlt. Aber als sie diesen bekommt, fallen Kindergeld und Wohnzuschlag weg. Sie hat zwar ein Recht auf einen Kita-Platz, aber es gibt zu wenige davon. Wenn sie richtig Pech hat, wohnt sie im teuren Stuttgart in einer 60 qm großen Wohnung für 900 Mäuse im Monat – kalt!

Arme kämpfen gegen Arme

Es gibt noch einen Punkt, der mir immerzu Sorgen bereitet. Alternative Parteien erstarken und verbreiten ihre grausamen, dummen und erniedrigenden Thesen. Dass es bei uns viele Menschen gibt, die in Armut und Sorge leben, ist Fakt. Und jede(r) von ihnen möchte, genau wie du und ich, in Sicherheit leben, möchte genug zu essen und Zeit für seine Familie haben. Mit Armut lässt sich aber schlecht Wahlkampf machen. Wenn die Politik dieser Not im Wahlkampf aber keinen Raum gibt, wen wundert es, dass rechte Parteien Zulauf bekommen? Die versprechen, alles wird wieder so wie früher, wir müssten nur den Flüchtlingen die Tür vor der Nase zumachen.

Ich möchte hier keine Verständnisrede für besorgte Bürger halten, denn niemand geht mir mehr auf den Keks als der Deutsche, der in der Eigentumswohnung lebt, in den Skiurlaub fährt, genug Moneten auf dem Konto hat und in seiner Freizeit erzählt, wie gefährlich der Islam für Deutschland wäre und wie ungerecht es sei, dass syrische Kinder kostenlose Kindergartenplätze bekommen. Aber es gibt sie und zwar viele, die nicht wissen, wie sie Miete und Schulausflug bezahlen sollen. Und um die muss sich die Regierung kümmern, denn sonst passiert das, was genauso furchtbar wie menschlich ist: die Armen hauen auf die noch Ärmeren ein. Und noch bescheidener, als hier in Armut zu leben, ist im Krieg UND in Armut zu leben.

Wir, die westliche Welt, haben eine Menge Dreck am Stecken, was den Nahen Osten angeht. Dass da der Krieg tobt, liegt auch daran, dass sich die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg massiv in die Ländereien eingemischt und mit ihren eigenen Interessen dafür gesorgt haben, dass dort die Funken fliegen. Damit wir hier den Export ankurbeln und unser Bruttosozialprodukt steigern, haben wir ne Menge Waffen geliefert, die den Krieg noch befeuern. Wenn aber dort die Menschen fliehen, weil ihnen und ihren Kindern die Bomben um die Ohren fliegen, dann fangen wir hier in Europa an, einen Zaun zu bauen. Genauso ist es mit Afrika. Gerne kaufen wir uns ein schickes Smartphone mit feinem Lithium-Ionen-Akku. Das darin enthaltene Kobalt wird im Kongo von Kindern aus den Minen geholt. Wenn diese Kinder dann genug von ihrem Schicksal haben und sich im Teenie-Alter aufmachen, um ein wenig vom westlichen Glück abzubekommen, dann holen wir den Grenzschutz.

Alles dreht sich nur um uns

Und wir hier im Westen, wir haben es gut. Wir sorgen uns den ganzen Tag darum, dass Levin und Emma ihr Bio-Essen bekommen. Sie dürfen in den Kindergarten mit „Kleinem Forscher-Kozept“, sind mit Marken-Thermoskanne und selbstgenähten Pumphosen bestens ausgestattet und bleiben dabei gerne unter sich. Tom und Anna, die beiden frechen Blagen, deren Eltern dauernd arbeiten und nie da sind, gehen bitteschön in den städtischen Kindergarten, über dessen Konzept Levins und Emmas Mama die Nase rümpft. Levin und Emma sollen auch keine Ausdrücke hören, die Tom in der Glotze aufschnappt, in die er sechs Stunden am Tag guckt. Levins und Emmas Mama möchte auch nicht, dass ihre gebildeten Kinder mit den anderen beiden in die gleiche Schule gehen. Sie hat einen Mann, der viel verdient und gönnt sich den Luxus, zuhause zu bleiben. Sie kocht frisch und mit viel Vitaminen und sorgt sich um Sonnenschutz, ausreichende Wassersäulen in Kinderjacken und schadstofffreie Schulranzen. Für den blättert sie 249 Euro pro Stück hin. Sie ist gegen Ganztagsschulen, denn sie ist ja den ganzen Tag zuhause und kann nachmittags Hausaufgaben bewachen, Uno spielen und mit Emma Vasen töpfern. Wieso sollten die Kinder bis vier Uhr in die Schule gehen? Dass das aber die Lösung für Tom und Anna wäre, ist ihr schnuppe.

Fakt ist, dass viele Eltern arbeiten müssen (und wollen). Und deren Kinder müssen betreut werden, und zwar richtig mit Sinn, Verstand und Unterstützung. Mit pädagogischem Fachpersonal, Sport- und Kreativangeboten und gutem Essen. Das kostet eine Stange Geld, ist klar. Aber in was für einer Welt möchten wir leben? In der Autofirmen und Banken gerettet werden, aber nicht unsere Kinder? Ich fordere mehr Geld für Bildung, für gute Schulen und Betreuungsmöglichkeiten. Und ich fordere, dass wir privilegierten Eltern Tom und Anna unterstützen, weil wir einfach nur mehr Glück hatten als deren Eltern. Nicht nur Tom, Anna, Amira und Hassan sollen in die tolle Schule gehen dürfen und bis nachmittags in der Obhut wohlmeinender und gut bezahlter Pädagogen lernen, sondern auch Emma und Levin. Tom würde davon profitieren, dass Levin so gut in Mathe ist. Und Levin lernt dafür die besten Fußballtricks und wie man eine Konsole bedient, er wird davon schon nicht umkommen! Mit dieser Ganztagsschule, und ich meine damit so gute und hochwertige Schulen wie in Skandinavien, kein daher geklöppeltes städtisches Betreuungskonzept mit viel zu wenig Personal, wären auch die Kinder alleinerziehender Eltern gut versorgt und Mamas und Papas könnten arbeiten gehen, um die Familie zu ernähren.

Was haben Levin und Emma für ein Glück, dass Mama und Papa Akademiker sind und in einem schönen Reihenhaus wohnen? Deshalb werden sie später Rechtsanwältin und Informatiker. Mit Tom und Anna hat keiner stundenlang Bilderbücher angeschaut und nachmittags vertreiben sie sich die Zeit mit der Playstation. Wen wundert es, dass sie trotz klugem Köpfchen diesen nie einzusetzen gelernt haben und später erst die Metzgerlehre abbrechen und danach ein Leben in Armut führen? Dass hier in Deutschland die Kinder aus armen Verhältnissen öfter als in andern Ländern später arm sein werden und zwar bewiesenermaßen, das ist auch eine Schande. Hier schaffen es nur die Emmas und die Levins an die Unis, was für eine gemeine Welt!

Ich habe einen Traum und diesen Traum träume ich weiter – für meine Kinder. Und wir alle können ein bisschen was tun für diesen Traum. Wir können vor allem Verständnis haben für die Not, die es in Syrien oder im Nachbarhaus gibt. Wollen nicht alle Eltern ein bisschen Glück für sich und ihre Kinder? Und sind wir, die es so gut getroffen haben, nicht auch für die ärmeren von uns verantwortlich? Verschiebt sich unser Blick nicht auch auf die Welt, wenn wir unser erstes Kind bekommen? Werden wir nicht noch herzenswärmer und sensibler für die Nöte von Kindern, und zwar von allen? Unsere Söhne und Töchter sind unser großes Glück, aber genau das gleiche Glück sind sie für eine flüchtende Mutter aus dem Kriegsgebiet oder für eine Alleinerziehende, die einen Berg voll Sorgen vor sich herschiebt und nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll? In was für einer Gesellschaft möchtest du leben und wie soll diese Gesellschaft mit dir umgehen, wenn es dir schlecht geht?

Ich weiß, dieser Text ist keine leichte Kost, aber neben all den Kolumnen, Rezepten und Witzgeschichten habe ich das große Bedürfnis, mal über den Tellerrand der Schicki-Micki-Bloggerwelt zu schauen.

Bleib fröhlich und unperfekt, deine Laura

Ps.: Ich möchte dir mal wieder ein Buch ans Herz legen. Ich verehre Axel Hacke und habe sein Buch Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen (Affiliate Link) soeben fertig gelesen. Es ist ein wunderbares Buch über Menschlichkeit, erhebt an keiner Stelle den moralischen Zeigefinger und bringt dich garantiert zum Grübeln.

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