Jimmy rüstet auf

Als ich klein war, durfte ich sehr viel, denn meine toleranten Eltern haben mir all das erlaubt, was Kinder gerne machen: Freunde besuchen, lange aufbleiben, Traubenzucker essen, Geburtstage feiern und Sissi-Filme schauen. Allerdings gab es auch eine Hand voll Verbote, über deren Einhaltung mein Vater sehr streng wachte. Darunter fiel der Besitz von Barbie-Puppen oder Plastik-Döschen namens Polly Pocket. Auch Benjamin Blümchen durften wir nicht hören, weil der Elefant scheinbar zur Verdummung von Kindern beitrage. Die Abscheu meines Vaters gegen alle privaten Fernsehsender und gegen Fernsehen im Allgemeinen drückte er damit aus, dass wir weder Kabel noch Antenne im Haus besaßen und unserer Fernseh-Bildschirm in etwa so groß wie eine XXL-Tafel Ritter Sport war. Baywatch und Beverly Hills 90210 Schauen war also nicht nur verboten, sondern schlichtweg unmöglich. Sinnlos war außerdem das Verlangen nach Reit- und Ballettstunden. Diese Verweigerung entsprang der unbändigen Angst meines Papas, ich verkäme zu einem typischen Mädchen, das nur Gäule und Tüllröckchen im Kopf habe. (Hatte ich trotzdem!) Last but not least gehörten auf die Schwarze Liste meiner Kindheit Schokoprodukte der Marke Ferrero, Milchschnitten und Fruchtzwerge.

Mein Vater hatte nur nicht bedacht, dass konsequente Verbote bestimmter Gegenstände bei Kindern zu leidenschaftlicher Hingezogenheit zu denselben führen. Also kaufte ich mir heimlich auf dem Flohmarkt von meinem Taschengeld eine gebrauchte Barbiepuppe, und sog in meinem Zimmer den köstlichen Duft der pafümierten Plastikpuppe ein. Ich kämmte sie, zog die rosa Pumps an und aus und wünschte mir in meinen Träumen das passende weiße, mit pinken Bändern verzierte Pferd samt Kutsche dazu. Dass ich von meinem Vater eher „meine erste Hanfplantage zum Selberzüchten“ bekommen hätte, war mir zu jeder Zeit klar.
Um Polly Pocket-Dosen und Benjamin Blümchen-Kassetten bat ich meine Patentante, bis diese nachgab und mir die heiße Ware zum Geburtstag schenkte. Übrigens führte die langjährige Abstinenz von Elefantengeschichten zu einer ausgewachsenen Bibi und Tina-Sucht, der meine Schwester noch im Alter von 30 Jahren tagtäglich fröhnt.

Die schlimmsten Ausmaße nahmen aber die Nachmittage bei meinen Freundinnen an. Während die anderen Mädels Playmobil-Häuser bauten oder sich über die Schule unterhielten, hatte ich mich ins Fernsehzimmer gestohlen und schaute den ganzen Nachmittag Pro Sieben und Super RTL. Nebenher verputzte ich alle Milchschnitten und Fruchtzwerge, die uns die anbetungswürdige Mutter meiner Freundin gebracht und die ich den anderen allesamt abgeschwatzt hatte. Außerdem habe ich das erste Semester meines Studiums im Studentenwohnheim mit Kabelanschluss nahzu ausschließlich mit dem Glotzen von Serien und Reality TV verbracht und nebenher KinderSchokolade, Hanuta und Überraschungseier in rauen Mengen verdrückt. Bis zu meinem heutigen Lebenstag habe ich mich diverse Male in verschiedenen Reitschulen vorgestellt und hüte im Keller einen Reiterhelm.

All dies habe ich in den letzten Wochen bedacht, als urplötzlich Jimmy das Thema Waffen auf den Tisch brachte. Dass es irgendwann so weit kommen würde, war mir immer bewusst. Aber dann ging es unerwartet schnell. Angefangen hatte alles mit seinem Freund Justus, der beim Laternenumzug des Montessori-Kindergartens voller Inbrunst sang: „Ich geh mit meiner Pistole, und meine Pistole mit mir!“. Das hatte Jimmy so beindruckt, dass er von nun an das Lied nie wieder anders gesungen hat und seit diesem Tag voller Bewunderung zu seinem mit einem Lego-Schwert bewaffneten Kumpel aufschaut.

Nun bastelt auch mein bisher so friedliebendes Kind Pistolen aus Lego, beisst ein Colt aus seinem Butterbrot und ruft den lieben langen Tag „Peng Peng“. Sein Berufswunsch ist nicht länger Katze, sondern Ritter. Wenn er einer geworden ist, möchte er eine Frau schnappen und einsperren, verriet er mir gestern beim Abendessen. Ich habe mir über die Bewaffnung meiner Kinder schon Gedanken gemacht, als ich nocht nicht einmal einen passenden Vater für sie gefunden hatte. Für mich wäre es niemals in Frage gekommen, Pistolen, Schwerter oder sonstige Fürchterlichkeiten zu verschenken und ich konnte Axel Hacke nur recht geben, der in seinem Erziehungsberater erklärt: „Meine Kinder sollen friedliche Menschen sein, deshalb bekommen sie keine Spielzeugwaffen.“

Da aber fiel mir auf einmal meine eigene Kindheit wieder ein. Wenn ich Jimmy die begehrten Mordinstrumente nun ausnahmslos verweigerte, würde er selbst losziehen, um sich auf dem Flohmarkt ein Nerf-Maschinengewehr zu kaufen? Verbrächte er die Tage im Freibad mit dem Herumschießen von heimlich erworbenen Wasserpistolen? Würde er sich nichts sehnlicher wünschen, als Sportschütze zu werden und nach der Schule auf dem schnellsten Weg in die Bundeswehr eintreten?

Um diese grausamen Hirngespinste zu vertreiben, ging ich mit den Kindern auf den Mittelalter-Weihnachtsmarkt zum harmlosen Karussellfahren. Es kam wie es kommen musste: Jimmy blieb an einem Stand für Ritterausrüstung stehen und verliebte sich in ein Holzschwert mit roter Filzhülle, das er auf der Stelle besitzen wollte. Ich dachte an die Zukunft meiner Kinder, an meine eigene Abscheu vor Waffen aller Art, an all das Elend in der Welt – und kaufte das Spielzeug. Auch Luise erhielt gleich vorbeugend ein Exemplar, und bewaffnet bis an die Zähne verließen wir den Schauplatz des Grauens. Im Auto hielt ich einen Vortrag über den Umgang mit den neuen Schätzen und über die sofortige Konfiszierung  der Schwerter bei Bedrohung von Mitmenschen.

Axel Hacke zitiert in seinem Stück „Kriegstreiber“ den US-amerikanischen Kinderpsychologen Bruno Bettelheim: „Man dürfe Kindern Waffen nicht verweigern, wenn sie danach verlangen.“ In Gedanken füge ich hinzu: und Barbies und Plastikponys auch nicht.

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