Mit Kindern wachsen: Dieses Buch wird euren Familienalltag verändern

Vorgestern war es mal wieder soweit: Luise und ich sind heftig aneinander geraten. Und es musste so kommen, denn wenn eine Dreijährige, die ihr Leben gerne nach ihren ganz eigenen Vorstellungen lebt, und eine Mama, deren Nerven dünn wie Bindfäden sind, aufeinander treffen, macht es einfach „Bumm“! Ich stand also vor Wut schnaubend und mit klopfendem Herz im Badezimmer, in das ich mich zu Luises Schutz eingesperrt hatte, und zählte bis zehn. Hat nicht so viel genutzt, aber es musste trotzdem weiter gehen, und so brachte ich erst einmal das Baby ins Bett.

Das Ende vom Lied waren zwei heulende Damen, die eine klein, die andere groß, die sich in den Armen lagen, sowie eine Erkenntnis: Meist besteht das Problem darin, dass Luise selbst entscheiden möchte. Da sie dies in Sachen Kleiderwahl und Bilderbuch herzlich gerne darf, beim Zähne putzen oder Birne selber schneiden aber eher nicht, kommen wir uns in die Quere. Oft finden wir Kompromisse oder einigen uns. Manchmal geht aber auch gar nichts mehr und großer Ärger schwelt in der Luft, der sich zwangsläufig in einem tränenreichen und lauten Gewitter entlädt.

Buchempfehlung: Mit Kindern wachsen

Und, kennt ihr Situationen wie diese? Dann habe ich mal wieder eine tolle Buchempfehlung für euch! Ich habe in den letzten beiden Wochen „Mit Kindern wachsen“ gelesen, geschrieben von dem Ehepaar Myla und Jon Kabat-Zinn. Darin gibt es eine Geschichte mit dem Titel „Sir Gawain und die hässliche Dame“. Ein ehrenwerter Ritter heiratet die furchtbar hässliche Dame, die ihn in der Hochzeitsnacht vor die Wahl stellt: entweder wird sie jede Nacht alleine für ihn wunderschön, oder am Tag, wenn alle anderen Menschen sie zu Gesicht bekommen. Der Ritter überlässt ihr die Entscheidung, und das entbindet die Dame gänzlich von ihrem Fluch und sie ist endlich für immer schön.

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Das Gleichnis

Das tiefe Gefühl der Selbstbestimmung, das Sir Gawain nachempfinden kann, ist der Schlüssel zum Glück seiner Frau, und genau so ist es auch mit den Kindern. Ganz klar, Luise kann nicht jederzeit selbst bestimmen, dazu ist eine Dreijährige zu klein. Aber nachempfinden, was sie fühlt, das kann ich versuchen. Und das ist laut Kabat-Zinns auch der Schlüssel zu einem achtsamen Familienleben: Indem wir unseren Kindern Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit zugestehen, ermöglichen wir ihnen zum einen, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind, und zum anderen, ihren eigenen Weg zu finden. (S. 67)

Viele andere Stellen im Buch erscheinen mir beim Lesen so einleuchtend wie die wundersame Geschichte von Sir Gawain. Das Thema Achtsamkeit begleitet mich nun schon eine Weile, und hier finde ich die Antwort, wie ich sie in der Familie umsetzen kann. Allerdings ist das nicht von heute auf morgen zu schaffen, sondern fordert von uns Eltern Übung, nichts als Übung. Im Grunde geht es darum, dass die Herausforderung der Elternschaft darin besteht, jeden Augenblick so intensiv und bewusst wie möglich zu leben (Vgl. S. 17) Aber das ist oft sehr schwer. Ich puzzle halbherzig mit Luise, weil ich an die Wäscheberge im Bad denke. Ich lese Jimmy aus dem Fußballbuch vor, und bin in Gedanken beim Abendessen machen. Ich stille Oskar, während ich im Handy das Wetter für morgen abchecke. Die erste Regel der Achtsamkeit lautet daher, mit voller Aufmerksamkeit bei dem zu sein, was ich momentan tue. Und die zweite Regel besteht darin, sich nicht über sich zu ärgern, weil genau das im ersten Anlauf nicht klappt. Wenn die Gedanken dazwischen grätschen, akzeptiere ich dies, schiebe sie liebevoll zur Seite und widme mich wieder meinem Tun. „Nein, lieber Wäscheberg. Ich höre dein Rufen. Aber ich sitze hier gerade so schön mit meiner Luise, und das Puzzle macht uns viel Spaß. Ich kümmere mich später um dich, lass mich aber nun bitte in Ruhe.“

Sich von Ängsten, Erwartungen und Bedürfnissen zu befreien, ganz besonders in Bezug auf unsere Kinder, ist so wichtig, finden die Autoren (Vgl. S. 21). Kein Tag vergeht, an dem wir uns nicht um die Zukunft unserer Kinder sorgen, ihr Verhalten bewerten und ihnen unser eigenen Erwartungen auftischen. Folgender Gedankenstrom könnte von mir sein: „Wird Jimmy Freunde finden, oder ist er für den Schulalltag zu eigenbrötlerisch? Warum kann Luise nicht sanfter und liebevoller mit ihrem Babybruder umgehen, und wieso brüllt genau dieser eigentlich immer, wenn er im Autositz liegt? Ich habe mir doch so sehr ein ruhiges, zufriedenes Baby gewünscht.“ Wenn ich mit dem Filter der Achtsamkeit auf meine Kinder schaue, klingt das ganz anders:

„Jimmy ist prima, wie er ist, und ich habe Vertrauen darauf, dass er in der Schule Anschluss findet. Luise zeigt ihre Liebe zum Bruder nun mal mit voller Kraft. Sie wird dem Baby garantiert nichts Schlimmes tun. Das Baby kann sich durchsetzen, wunderbar. Und es zeigt jetzt schon, was es braucht. Ich nehme alle meine Kinder so an, wie sie sind, und akzeptiere sie in ihrem ganzen Wesen, ohne Wenn und Aber.“

Wege zu mehr Gelassenheit

Ja, denkt ihr nun, das klingt alles ganz prima. Aber es ist leichter gesagt als getan, und unsere Gedanken lassen sich nun mal nicht so einfach in diese Richtung leiten. Stimmt, sage ich, und hier kommt auch die erwähnte Übung ins Spiel. Die gute Nachricht ist, dass ihr Achtsamkeit lernen könnt. Die schlechte lautet, dass Zeit, Muße und Wiederholung benötigt werden, um ans Ziel zu kommen. Im Buch erfahrt ihr, wie das klappt, und bekommt zahlreiche Tipps, um sie im Alltag mit Kindern zu praktizieren. Im Grunde geht es um eine Art Meditationsübung, für die ihr euch am besten täglich Zeit nehmt. Ob ihr ein wenig früher aufsteht, es in eure Mittagspause integriert oder Achtsamkeit vor dem Einschlafen übt, ist egal. Etwa eine halbe Stunde braucht ihr, in der ihr euch ruhig hinsetzt und auf den eigenen Atem hört. Es geht darum, von Moment zu Moment zu leben, die Gedanken auszuschalten und ganz bei sich zu sein. Und das klappt nur mit einer ganzen Menge Training.

Und was soll diese Meditation dann mit den Kindern zu tun haben, denkt ihr jetzt vielleicht? Tja, ich kann nur sagen, dass es eine ganze Menge mit ihnen zu tun hat. Ich habe es selbst erlebt. In dem wir eine bestimmte Art von Gewahrsein oder Bewusstheit entwickeln, sind wir auch in der Lage, die Bedürfnisse unserer Kinder so umfassend wie möglich zu befriedigen (Vgl. S. 37). Wir lernen, inne zu halten, zu verstehen, was die Kinder genau in diesem Moment brauchen und wir können entsprechend reagieren. Die Achtsamkeit lehrt uns, den einzelnen Augenblick zu erfassen, ohne darüber zu urteilen. In der Praxis bedeutet das: „Luise will heute Abend nicht die Zähne putzen, weil sie selbst bestimmen will, was sie tut, und sie zum Putzen gerade keine Lust hat. Viel lieber möchte sie spielen oder ein Buch lesen. Ich bin darüber sehr verärgert und ich bin müde und erschöpft vom Tag. Jetzt halte ich einen Augenblick inne, akzeptiere alles so, wie es ist, inklusive meiner Verärgerung, und suche dann nach einer bestmöglichen Lösung.“

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Bewusstheit, Klarheit und Mitgefühl

Diese drei Stichworte, Bewusstheit, Klarheit und Mitgefühl (Vgl. S. 40), die im Rahmen der Achtsamkeitsmeditation ganz automatisch in unser Bewusstsein treten, lässt uns unsere Kinder besser verstehen, wir sehen das Chaos in unseren Familienbeziehungen klarer und könne uns besser in die Kinder hinein versetzen. Wir lernen dabei aber auch, uns selbst gegenüber achtsamer zu sein. Auch wir Mütter sind manchmal kaputt, verärgert, genervt und gereizt. Das zu akzeptieren und sich nicht immer anders haben zu wollen, ist schon ein guter Weg in die richtige Richtung. Sobald wir Kinder haben, kommen die besten Seiten unserer Persönlichkeit zum Vorschein, leider aber auch unsere schlimmsten (Vgl. S. 44). Nie war ich ein so lieber Mensch, nie konnte ich so lustig sein und nie so gut trösten, wie in den letzten fünf Jahren. Aber niemals in meinem Leben hatte ich so sehr das Bedürfnis, einem kleinen Menschen mal den Po zu versohlen, wie neulich an besagtem Abend. (Würde ich sicher nie tun, denn vorher schließe ich mich ins Bad ein…)

Tja, so schwer ist es manchmal, Eltern zu sein. Aber der Weg der Achtsamkeit hilft uns, die Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Seitdem ich mit einer Übungs-CD von Susanne Kersig übe und das wunderbare Buch „Mit Kindern wachsen“ gelesen habe, kann ich tatsächlich in vielen Situationen inne halten und liebevoller, verständnisvoller und achtsamer reagieren als zuvor. Das Buch ist ein wahrer Schatz, der viele Sätze enthält, die mich als Mutter sehr berühren. Einen möchte ich hier zitieren:

Kinder verkörpern die besten Seiten des Lebens. Sie leben in der Gegenwart, sie sind reine Möglichkeit, und sie verkörpern Vitalität, Entwicklung, Erneuerung, Hoffnung. Sie sind ganz und gar nur das, was sie sind. Und sie teilen dieses vitale Sein mit uns und erwecken es auch in uns zu neuem Leben, wenn wir ihren Ruf zu hören vermögen. (S. 108)

Ich liebe Luises Vitalität. Wie sie singt und lacht, tanzt und tobt. Sie hat ihren Kopf, und auf ihre Eigenständigkeit und ihren unbedingten Willen zum Widerspruch bin ich auch ganz schön stolz.

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Das Buch schließt ab mit zwölf Übungen zur Entwicklung von Achtsamkeit in der Familie, die an jede Kühlschrankwand gehören. Ich bedanke mich beim arbor-Verlag, der mir „Mit Kindern wachsen“ zur Verfügung gestellt hat. Im Verlagsprogramm findet ihr übrigens noch viele weitere Titel zum Thema. Und auch das Buch „Liebe und Eigenständigkeit“ von Alfie Kohn, das ich hier besprochen habe, ist von diesem Verlag. Ich freue mich, wenn ihr das Buch kauft, und noch mehr freue ich mich, wenn ihr es bei einem Buchhändler vor Ort kauft oder bestellt. Damit unterstützt ihr die Läden in eurer Stadt, die im Gegensatz zum Internetgiganten ihre Steuern auch bei uns bezahlen. Dankeschön!

Falls ihr Lust habt, noch mehr über das Thema zu lesen, empfehle ich euch mein Interview mit der fünffach-Mama Isabel, die mit Hilfe der Gewaltfreien Kommunikation einen tollen Weg gefunden hat, ihre Kinder achtsam zu erziehen und Trotzphasen meisterhaft zu umschiffen. Und last but not least sollt ihr auch wissen, dass es Tage gibt, an denen ihr auch einmal pädagogisch wertlos sein dürft.

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