Sjáumst! Wie ich einmal fast nach Island ausgewandert bin

Letzte Woche, es war Freitag, war meine Laune im Keller. Ich hatte Lust auf was zu Essen und ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und suchte nach etwas Leckerem. „Halló! Du siehst aber nicht gut aus!“, sagte eine tiefe männliche Stimme mit nordischem Akzent. Ich erschreckte mich sehr, denn noch nie hat der Kühlschrank zu mir gesprochen. Als ich genauer hinschaute, war es nicht der Kühlschrank, sondern der Mann auf dem Skyr-Becher. „Wow, dafür siehst du umso besser aus“, antwortete ich ihm, als ich meinen Schreck überwunden hatte.

Der Mann war wirklich ungemein attraktiv. Breite Schultern, Bart, Zopf und ein wolliger Norweger-Pullover. „Ich bin Sigurdsson, und du?“, stellte er sich vor. „Ich bin Laura,“ sagte ich. „Wie kommt es, dass du mit mir sprechen kannst?“, fragte ich ihn. „Ich bin ein isländisches Model und wurde beauftragt, unsere landestypische Quarkspeise anzupreisen. Skyr ist fettam und eiweißreich und ich futtere es haufenweise, denn wie du siehst habe ich ziemlich viele Muskeln. Wusstest du , dass die Wikinger den Skyr vor 1.000 Jahren nach Island brachten?“

„Nein“, antwortete ich. Ehrlich gesagt interessierte mich das auch nicht. Sigurdsson merkte es wohl und wechselte das Thema. „Wieso siehst du eigentlich so fertig aus?“, fragte er. „Ach weißt du, es ist wegen der Kinder. Sie haben Ferien“, erzählte ich ihm. „Aber Ferien sind doch schön“, wunderte sich der hübsche Mann. „Nein, irgendwie nicht. Die Kinder sind oft zuhause und sie streiten so viel. Sie schreien rum und singen laut, sie schubsen sich die Treppe herunter und weinen. Der Kleine zieht im Vorbeigehen an den Haaren des großen Bruders, der heult laut auf und rennt ihm hinterher. Die Schwester beschützt den jüngeren Bruder und prügelt dann mit diesem zusammen auf den Ältesten ein. Ich sitze daneben und gucke mir das alles sprachlos an.“

„Aber das sind doch nur Kinder“, meinte Sigurddson. „Bei uns in Island lieben wir Kinder.“ „Ja, ich weiß. Bei euch in Island läuft sowieso alles toll. Gleichberechtigung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Kinder sind überall beliebt und willkommen, supergut in der Schule und Alle haben die gleichen Chancen. Die Männer sehen aus wie du und überhaupt – ach, jetzt nerv mich nicht. Hier ist eben Deutschland und bei mir zuhause liebe ich Ruhe und Frieden.“

„Jetzt sei mal nicht gleich so eingeschnappt. Eigentlich habe ich ja keine Ahnung von Kindern. Ich lebe hier in der kleinen Hütte, die du hinter mir sehen kannst. Ich habe sehr viel Ruhe. So kann ich den ganzen Tag trainieren, Skyr essen und ab und zu durch die Winterlandschaft wandern. Abends mache ich mir ein Feuer und lese dänische Philosophen. Hast du Lust, vorbei zu kommen?“

Ich fragte mich, ob der das jetzt ernst meint. Und wie ich bitte von hier aus nach Island kommen soll. Das Angebot schien aber verlockend. Mit Sigurdsson in einer Hütte sitzen, zuschauen, wie er seine Muskeln stählt, ab und an einen Spaziergang durch die eiszeitliche Stille machen und dann mit einem guten Buch am Feuer sitzen. Vielleicht gibts da noch ein paar Alternativen zu diesem Quark-Zeug? Frischen Lachs, den Sigurdsson mit seinem Speer aus dem nahe gelegenen Bach fischt oder einen heißen isländischen Punsch?

Jedenfalls hörte sich das alles fantastisch an und als ich an die vergangene Woche dachte, wollte ich eigentlich direkt in den Flieger steigen. Besonders schlimm blieb mir dieser eine Nachmittag in Erinnerung. Jimmys Ferienbetreuung war wegen des Unwetters geschlossen und die anderen Beiden waren früh aus dem Kindergarten zurück. Seit Tagen jammerte Jimmy herum, er wolle sich nun endlich von seinem Zeugnisgeld einen Kampf-Kreisel kaufen. Dafür müssen wir aber mit dem Auto los in die Stadt, ins Parkhaus und in den Laden hinein, in dem dann alle drei Kinder garantiert ganz viel Spielzeug haben wollen. Also habe ich es vor mir hergeschoben. Heute endlich wollten wir am Nachmittag los. Vorher gab es mal wieder ordentlich Gezanke, Gestreite und Gemecker. Das Essen hatte nicht geschmeckt, jeder aß drei Löffel Gemüsesuppe und dann krähten die Drei laut nach einem Nachtisch. Jedenfalls lautete mein Angebot „leerer Suppenteller gegen Eis“ und keine Diskussionen. Darauf ließen sie sich nicht ein und machten ihrem Ärger mit lautem Türeknallen Luft. Später jedenfalls sollte es los gehen zum Spielwarenladen, aber dann biss Oskar Luise aus lauter Lust so in den Finger, dass dieser blutete. Luise schrie wie am Spieß und ich rannte wie eine Wilde an den Computer, um zu recherchieren, was man in so einem Fall tut. Menschenbisse sind nicht ungefährlich, vor allem, wenn eine Wunde entsteht. Also habe ich erst einmal Sanitäterin gespielt und war danach nervlich am Ende. Zum Kreisel-Einkaufen hatte ich keine Kraft mehr, was Jimmy zu einer riesen Heul-Attacke veranlasste, weil er sich so gefreut hatte.

Das alles erzählte ich Sigurdsson und ich erzählte ihm auch, dass einen Tag zuvor Ähnliches los was. Luise, Oskar und ich hatten einen Zahnarzttermin, Jimmy wollte nicht mit und fand aber keinen Freund, bei dem er hätte spielen können. Sauer lief er zum Spielplatz, Oskar hinterher. Ihn musste ich aber einfangen, wir hatten es eilig. Er wehrte sich, beisste, kratzte und schrie. Luise tauchte viel zu spät von einer Freundin auf, sie hatte nicht einmal die Zähne geputzt. Irgendwie kriegte ich die Kinder doch ins Auto, Jimmy war abgehauen. Jedenfalls war das bereits ein Zeitpunkt, zu dem ich bei jedem bärtigen Herren mitgefahren wäre, ganz egal wohin.

So kam es, dass ich am Ende der Woche kaputt und erledigt war, und dass der schöne Isländer in meinem Kühlschrank es auch bemerkte. „Sigurdsson, ich packe meine Sachen und bin spätestens in zwei Tagen da. Wo muss ich hinfliegen und wie komme ich dann zu deiner Hütte?“, fragte ich. Sigurdsson erklärte mir in seinem niedlichen Dialekt den Weg und ich schrieb eifrig mit. Dann packte ich die Taschen und zog mich an. Auf dem Weg nach unten kam ich an dem Bild von Anton und mir vorbei. Ob Sigurdsson wohl auch für mich seine Arbeitszeit reduzieren würde? Kann man mit Sigurdsson wohl so schön lachen, über Filme und Musik diskutieren und stundenlang Columbo schauen, oder interessiert er sich am Ende nur für seine Muckis und proteinhaltigen Quark?

Ich ging zum Kühlschrank und sagte Sigurdsson, dass ich es mir anders überlegt habe. Dass ich die Idee von der Hütte ganz weit weg von jeder Zivilisation sehr gut finde, aber leider nicht ohne Anton leben kann. Der hat nämlich alles andere als Quark im Kopf. Dafür wird er mich hier bald ablösen, Gemüsesuppe kochen, sich das Gemecker anhören und Kampfkreisel kaufen gehen. Und darauf kommts doch am Ende an.

Vertu blessaður, Sigurdsson! Danke für dein Angebot. Aber ich liebe einen anderen. Und mit dem werde ich das mit den Kindern hoffentlich schaffen.

Deine Laura

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