Von Frühförderung und anderem Wahnsinn

Kein Meeting diese Woche

Neulich stehen wir vor dem Kindergarten, eine gute Bekannte und ich. Unsere Jungs sind befreundet und Jimmy hat mich gebeten, Raffael einzuladen. „Evi, wann habt ihr mal Zeit für einen Nachmittagstreff?“, frage ich. „Moment mal, ich schaue“ sagt Evi, und scrollt sich in ihrem Smartphone durch die Woche. „Montag ist immer schlecht, da hat Raffi nachmittags Federballtraining, genauso wie freitags. Bald steigt er in die B-Jugend auf, da wird der Druck größer. Dienstag sind wir bei der Ergotherapie, wegen seiner schlechten Stifthaltung. Deshalb müsste Mittwoch gehen. Moment, mittwochs sind wir seit einer Woche bei der musikalischen Früherziehung und danach ist Kinderturnen. Du weißt ja, wie gerne er musiziert. Mist, und Donnerstag geht Raffael ins Capoeira. Das schult den Gleichgewichtssinn und das Rhythmusgefühl ungemein, wusstest du das? Außerdem ist der Trainer einsame klasse. Aber in den Herbstferien klappts bestimmt.“ Ich nicke und verabschiede mich. Jimmy wird ziemlich traurig sein. Seit Tagen liegt er mir damit in den Ohren. Er will endlich auch Freundebesuch bekommen, wie seine Schwester.

Babymassagekurse und Geige nach Hashimoto

Ich war frustriert, dass Jimmy seinen Freund nicht treffen konnte. Und ich wunderte mich über den vollgestopften Kalender eines Fünfjährigen. Klar, ich kenne das! Die Kinder gehen heute schon mit drei Jahren in die Musikschule, Kinderturnen ist ein Muss und meist verschreibt ein motivierter Kinderarzt Logo-, Ergo- oder Dingsbumstherapie, weil das der Frühförderung dient. Und wir Mütter wissen vor lauter Zeitdruck nicht, wie wir die unmotivierten und müden Zöglinge in den Geigen- oder Jazztanz-Unterricht bekommen sollen. Aber wer im Glaushaus sitzt fällt selbst hinein, wie es so schön heißt, und deshalb erzähle ich dir jetzt mal ein paar Geschichten aus meinem Leben!

Ich wollte als Neu-Mama nicht die einzige sein, die kein Babymassagekurs besucht. Schließlich hat die Hebamme ein Loblied auf die Sinnesstimulierung gesungen und gepredigt, wie sehr Säuglingsmassagen den Körper und den Geist der Winzlinge fördern. Jimmy jedenfalls hat bereits gebrüllt, wenn ich ihn per Bus zur Massagepraxis der Hebamme kutschiert habe. Er hat weiter geheult, als ich ihn auszog und Zeter und Mordio geschrieben, als ich das Mandelöl über ihn kippte. Auf dem Heimweg habe dann ich geheult und zum Glück war ich so clever, die restlichen Stunden zu canceln und stattdessen mit dem Baby durch den Wald zu marschieren oder einen Kaffee trinken zu gehen.

Eine Mutter macht jeden Fehler einmal, oder nicht?

Ich habe aber weiterhin Lektionen lernen müssen! Drei Jahre später habe ich Jimmy jeden Donnerstag 30 Minuten überredet, doch bitte, bitte, bitte mit mir den Bibabutzemann zu tanzen und das Kinderturnen entsprechend zu würdigen. „Wenn du nicht sofort die Hände über dem Kopf zu einem Hütchen zusammenfaltest, gehen wir nie wieder zum Turnen!“ habe ich ihn angezischt. Jimmy hat mir die Zunge rausgestreckt und sich beleidigt in die Ecke verzogen, während ich mit all den anderen Müttern die Hampelmannshow abzog. „Kinderturnen fördert die Motorik und schult die Balance“, murmelte ich wie ein Mantra vor mir her und versuchte, mit Contenance den Sauseschritt zu tanzen.

Auf zum Ballett!

Mütter müssen so manchen Fehler machen, das ist ein Gesetz, denn die Erfahrung macht klug. Ich machte einige Fehler aber mehrere Male. Und nachdem Luise immer so motiviert und leidenschaftlich tanzte, sobald ich den Zuckowski einlegte, war ich leichte Beute für die Jungs und Mädels vom örtlichen Tanzclub. Sie brauchten mir nur einen Flyer in die Hand zu drücken, auf dem für den neuen Zwergenkurs geworben wurde, und ich war Feuer und Flamme. Luise schien ebenfalls begeistert, als wir zur Probestunde aufbrachen. Sie tanzte zusammen mit anderen Mini-Ballerinas den Elsa-Tanz, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Sonst muss ich bei den ersten Takten von „und ein Sturm zieht auf“, gesungen von Helene Fischer, fast meinen Kaffee erbrechen. Ich berichtete Oma und Opa von der erfolgreichen Probestunde, die Tante spendierte ein reizendes Tutu und ich sah meine kleine Dame schon in der John Cranko-Schule das Plié üben. Allerdings war die Tanzbegeisterung schon bei der zweiten Stunde völlig erloschen und Luise brüllte laut: „Tanzen ist doof, so dooooof!“ Ich erinnerte sie daran, dass es ihr gut gefallen und ich nun zehn Stunden bezahlt hätte und stimmte kurz ein „ich bin frei, endlich frei“ an, aber meine Tochter wurde erst rot vor Wut, um sich dann auf den Boden der Tanzschule zu legen und mit den Fäusten auf selbigen zu hauen, dabei immer wieder intonierend: „Tanzen ist doof, so doof!“

Endlich hat sie kapiert!

Du denkst, ich war geheilt? Nein, war ich nicht. Vor zwei Jahren schleppte ich Jimmy zum Mini-Fußball, weil er ja zuhause nichts anderes tat als Bälle gegen die Zimmertüren zu dreschen. Als er den Trainer sah, klammerte er sich an mich. Es half kein Betteln, kein Hinweis auf die Profifußballer vom BVB, die natürlich auch mal beim Zwergentraining waren und keine Versprechungen auf nagelneue orangene Fußballschuhe mit Stollen. Aber immerhin habe ich es dann kapiert!

Seitdem halten wir es mit Kursen jeglicher Art so: wer Lust hat, schaut sich einen an. Wenns gefällt, geht er weiter hin. Wenn nicht, lassen wir es bleiben. Wir besuchen sowieso nur Kurse, die den Kindern gefallen und in deren Flyer-Beschreibung auf keinen Fall Worte wie „Frühförderung“, „Intelligenz“ oder „Motorik“ vorkommen. Luise turnt leidenschaftlich gerne und würde nie eine Stunde ausfallen lassen, Jimmy ist nun alt genug und lebt nach dem Motto „nach dem Fußballtraining ist vor dem Fußballtraining“. Ich muss keines der Kinder irgendwo hinzwingen und würde das auch nie, nie wieder tun.

Natürlich gilt das für ihr junges Alter. Wenn wir später mal auf wochenlanges Bitten eine teure Trompete gekauft haben, ist nicht nach den ersten vier Stunden wieder Schluss, weil der Junior keine Lust mehr hat. Kinder müssen auch lernen, an einer Sache dran zu bleiben und ein wenig aushalten zu können. Das ist klar. Aber diese Lektion ist für Kinder zwischen drei und sieben Jahren meiner Meinung nach so lehrreich wie die ewige Predigt von den Vitaminen im Lauchgemüse.

Kinder lernen dann, wenn sie etwas wollen – so richtig wollen. Und irgendwann in der Schule müssen sie genug müssen. Ich selber nehme mich von nun an zurück und lasse mir von keinem Flyer mehr erzählen, dass meine Kinder ohne dieses und jenes Training nicht hinreichend gefördert würden. Denn kleine Kinder lernen am allermeisten, wenn sie Zeit zum Spielen haben, freie Nachmittage, an denen sie sich gehörig langweilen dürfen und wenn sie zuhause oder bei ihren Freunden auf der Trommel musizieren, auf der Sofalehne balancieren oder bunte Bilder malen. Und zwar ohne einen Erwachsenen, der sie dabei pädagogisch beschult.

Zurück zum Anfang unserer Geschichte. Kinder und Eltern, die große Freude an Nachmittagskursen haben, für die die Fahrerei kein mega Stress ist und die die Zeit in Turnhalle und Jugendkunstschule genießen, die machen es meiner Meinung nac absolut und genau richtig. Ich möchte hier überhaupt keinem in seinen Tagesablauf pfuschen. Ich will nur, dass du, liebe Leserin, dir auf gar keinen Fall den gleichen Stress machst, den ich mir mal gemacht habe. Wenn die Kinder keine Lust auf Xylophon und Frühenglisch haben, dann lass es sein und spar dir das Geld für die Kursgebühren. Und natürlich und in jedem Fall kann ein Babymassagekurs für Säugling und Mama eine Wonne sein! Ich kenne viele, die das super gerne gemacht haben. Aber wenn dein Winzling von Terminen grundsätzlich nichts hält, lass es bleiben, schlaf aus und kauf dir vom Kursbeitrag lieber ein paar neue Schuhe.

Die Freiheit, die ich meine

Und eine letzte Sache möchte ich dir aus meinem kleinen, aber hart erlernten Erfahrungsschatz mitgeben:  Wir sollten unseren Kindern ein paar freie Nachmittage lassen, an denen sie nach Belieben und mit den besten Freunden das tun können, worauf sie Lust haben. Schon in wenigen Jahren sind die Stunden voll mit Lateinnachhilfe, Konfikurs und Nachmittagsschule. Keine Angst, aus ihnen wird mit einer großen Portion Freiheit, einer möglichst gelassenen Mama und einem riesen Batzen Vertrauen in sich selbst auch so ein zweiter Picasso, Pelé oder Mozart – ein klein wenig Talent natürlich vorausgesetzt 😉

Bleib fröhlich und unperfekt,

deine Laura

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