Abends sieht es so aus, als hättest du deine Familie im Stich gelassen. Du kommst erst um halb neun nach Hause und deine Frau ist alles andere als begeistert. Sie hat die Kinder ins Bett gebracht und ist müde und kaputt. Du schaust noch einmal in die Kinderzimmer und siehst deinen Sohn, der fest schläft. Sein geliebter Hockeyschläger lehnt an der Wand. Wieder ist ein Tag vorbei, an dem du nicht mit ihm trainieren konntest. Deine Tochter wollte dir heute Abend noch ein Bild zeigen. Du bist zu spät gekommen und das Blatt mit den bunten Sternen liegt neben ihrem Kissen. Warum bist du eigentlich nicht für deine Familie da, wenn sie dich braucht?
Was keiner sieht
Keiner sieht, dass du heute morgen voller Liebe in die schlafenden Gesichter deiner Kinder geblickt und dich leise rausgeschlichen hast, um sie nicht zu wecken. Wie gerne wärst du an diesem Mittwoch mit ihnen gemeinsam aufgestanden, aber im Büro ist die Hölle los und die Chefin hat um 8 Uhr einen Termin anberaumt. Keiner sieht, wie du in der S-Bahn die Bilder anschaust, die dir deine Frau gestern vom Freibad-Besuch geschickt hat. Keiner sieht, dass du es bedauerst, nicht dabei gewesen zu sein, als deine Tochter das erste Mal vom Sprungbrett gesprungen ist. Stattdessen hast du im Büro die Kohlen aus dem Feuer geholt, weil du der Spezialist für die neue Grafiksoftware bist und die Chefin meint, du seist unabkömmlich.
Keiner sieht, wie du den Morgen durcharbeitest und dir kurz vor dem Mittagessen fast die Augen zufallen. Keiner sieht, dass es dir vor dem Gespräch mit der Chefin graust, das in einer halben Stunde stattfindet. Wie du sie bei Kaffee und Keksen um zwei Monate Elternzeit bittest, weil deine Tochter bald in die Grundschule kommt und du in der Zeit gerne zuhause wärst, um deine Frau zu unterstützen. Wie deiner Chefin die Gesichtszüge entgleisen und sie dir sagt, dass ein Mann in deiner Position in der Abteilung gebraucht wird und solche Bitten dazu führten, dass der nächste Schritt auf der Karriereleiter künftig für Kollegen Maier reserviert seien.
Keiner sieht, wie du die Mail öffnest mit der Bitte, heute um 16 Uhr bei der dringenden Teamsitzung anwesend zu sein, in der der Notfallplan für die Einführung der neuen IT-Systeme in den nächsten Wochen besprochen wird. Wie du deine Frau anrufst und ihr sagst, dass du den Sohn heute leider doch nicht zum Hockey bringen kannst und hoffst, um 19 Uhr da zu sein, wenn sie ihre Yogastunde hat. Wie deine Frau sauer wird und dir vorwirft, dass immer nur das Büro zähle und ihr langsam der Geduldsfaden reisst.
Keiner sieht, dass du mit Bedenken an die Kindergartengebührenerhöhung, die kaputte Waschmaschine und den Musikunterricht für die beiden Kinder denkst und daran, dass du die Gehaltserhöhung am Jahresende unbedingt brauchst. Wie du überlegst, ob du es diese Woche vielleicht mal schaffst, pünktlich zuhause zu sein, damit du mit deiner Familie wenigstens einmal in der Woche zusammen Abendessen kannst. Wie dir klar wird, dass du auf keinen Fall Zeit zum Zirkeltraining im Fitnessstudio findest, obwohl dir dein Orthopäde dies gegen die Schmerzen im Rücken unbedingt empfohlen hat.
Keiner sieht, dass du nachmittags kurz mit dem Sohn telefonierst, der dir unbedingt von seinem bevorstehenden Hockeyturnier erzählen möchte. Wie du ihn abwimmeln musst, weil du einen Kollegen in der Leitung hast. Wie du auf die Uhr schaust und weißt, dass jetzt eigentlich der Zeitpunkt gewesen wäre, um nach Hause zu fahren. Wie du deine Unterlagen packst und in die Besprechung eilst.
Keiner sieht, dass du mittags in der Kantine in deinen Kaffee gestarrt hast, das Hamsterrad verfluchst und deine Kinder schmerzlich vermisst.
Liebe Leserin oder lieber Leser! Kann es sein, dass viele von uns Eltern in einem Hamsterrad gefangen sind? Dass vielleicht nicht etwas mit uns, sondern mit dem System nicht stimmen kann? Dass gut ausgebildete Frauen mit Kindern keinen Weg zurück in ihren Beruf finden? Dass Väter für die wichtigsten Menschen in ihrem Leben nie genug Zeit haben?
Wir müssen etwas ändern!
Kann es sein, dass es sich lohnt zu kämpfen und etwas zu ändern? Aufzustehen und zu fordern, dass Männer das Recht auf ihre Kinder und Frauen das Recht auf ihren Job haben? Dass unser Traum von einer familienfreundlichen Arbeitswelt Wirklichkeit werden könnte? In der Männer, die sich Zeit für ihre Familie nehmen möchten, die Anerkennung erhalten, die sie verdienen? In der das Risiko, Männer einzustellen, genauso groß ist wie Frauen, weil die Nachricht über die Schwangerschaft der Partnerin unweigerlich mit einer einjährigen Elternzeit des Papas einhergeht?
In der auch kinderlose Menschen Anerkennung, Zeit und Rücksicht von Seiten ihrer Arbeitgeber für die Pflege ihrer kranken Angehörigen bekommen? In der Care-Arbeit zuhause und die Ausübung von Sozialberufen mindestens so wertgeschätzt werden wie die Tätigkeit millionenschwerer Manager, die ja so unglaublich viel Verantwortung tragen?
In der Eltern, die knapp bei Kasse sind, sich nicht mit drei Jobs aufreiben müssen, nicht von hochnäsigen Gemeinderäten saftige Kindergartengebührenerhöhungen vor die Nase gesetzt bekommen, sondern von der Gesellschaft unterstützt werden, weil sie die Kinder erziehen, die unser Land und das gesamte System tragen?
Dass alleinerziehende Mütter und Väter finanziell abgesichert sind, weil niemand von uns vor dem Verlust des Partners (aus welchen Gründen auch immer) gefeit ist?
Wir leben einem reichen Land und ich bin umso glücklicher über unser politisches System, je mehr ich über die Welt und ihre gruseligen Despoten erfahre. Dennoch liegt es mir fern, mich auf unserem Wohlstand auszuruhen, denn es gibt viel zu tun. Packen wir es an und kämfen wir für ein besseres Familienleben.
Bleib fröhlich und unperfekt, aber mach den Mund auf. Es geht um dich und deine Liebsten!
Deine Laura
Ps.: Dieser Text entstand, weil ich so viele Reaktionen auf den ersten Teil von Was keiner sieht erhielt. In diesem Artikel haben ich den Frust über die fehlende Anerkennung beschrieben, den ich als (nicht freiwillige) Hausfrau empfinde. Die Väter sind aber in keinem Fall die Verantwortlichen für den Frust.