Fußball ist unser Leben

Eine Leidenschaft, die Leiden schafft

Antons und meine Familie haben eines gemeinsam: wir sind keine Fußball-Fans. Sind es nie gewesen und wollten es auch nie sein. Keiner unserer Väter wollte je an den Wochenenden auf kalten Mäuerchen sitzen, um den Sprösslingen stundenlang beim Kicken zuzuschauen und sich mit all den ambitionierten und übereifrigen Papas unterhalten zu müssen, die ihre kleinen Ronaldos schon in der Jugendauswahl beim VfB spielen sahen. Unsere Eltern waren froh über ihre Abwesenheit bei den Weihnachtsfeiern des FC Pupsnasenhausen oder bei Jugend-Turnieren im 50 Kilometer entfernten Hinterwuster-Weihingen und dass keine 20 Kilo Vereinswäsche von einer pubertierenden Jungmannschaft im Waschkeller auf die Erfrischung wartete.

Meine Mutter schätzte Samstage ohne Sportshow und guckte lieber um 19 Uhr den Landarzt, Antons Mutter war glücklich, dass sich ihr Sprössling nichts daraus machte, dass der BVB fünf Mal in Folge verloren oder der hiesige HSV Berg-Beuren mal wieder um ein Törchen den Einzug in die Regionalliga verpasst hatte.

Nun ja, unsere Eltern hatten es gut, denn was ihnen verwehrt blieb, wird unsere Zukunft sein. Jimmy ist, wie ihr wisst, ein Fußballfan. Aber eigentlich ist das eine untertriebene Aussage, denn für Jimmy gibt es nichts anderes auf der Welt, außer vielleicht seine Zuneigung für seine eigene Familie. Die zählt in der Bundesliga-Spielzeit aber auch nur bedingt.

Die Tipp-Gemeinschaft

Morgens, wenn Jimmy aufwacht, bittet er mich, einen Blick auf mein Smartphone zu werfen. Mit Hilfe einer App versichert er sich unter Bedauern, dass der VfB immer noch auf dem dritten Platz der zweiten Liga weilt, genauso wie gestern um zehn Uhr spät beim Einschlafen. Sein erster Gedanke am Morgen gilt dem runden Leder, da kann nicht einmal ein Adventskalender oder das nahende Weihnachtsfest mithalten. Auf seinem Wunschzettel steht nicht etwa ein neues Rad, sondern allein die Hoffnung, dass das Christkind dem BVB zum Tabellensieg verhelfen möge.

Wenn Jimmy vor dem Frühstück die Tabelle geprüft hat, widmet er sich dem Fachgespräch. „Mama, was glaubst du: gewinnt Bochum am kommenden Samstag gegen Erfurt, oder nicht?“, das werde ich noch vor dem ersten Morgenkaffee gefragt. „Ich tippe auf eins zu null für Bochum“, antworte ich ins Blaue hinein. „Nein, glaub ich nicht“, meint Jimmy entrüstet, „Bochum ist Gruppenletzter und wird es auch bleiben“, fachsimpelt er, während er in sein Honigbrot beisst. Jimmy spielt nicht nur selbst gerne Fußball, sondern ist auch versessener Sportwetten-Fan geworden. Anton ist ihm zuliebe in eine Büro-Tippgemeinschaft eingetreten und pünktlich zum Wochenende erinnert Jimmy Papa an die gemeinsame Teilnahme. Mit qualmendem Hirn sieht man das Kind dann über Antons Smartphone gebeugt. Er schätzt, wägt ab, bezieht die Tabellenrangliste mit ein und gibt dann mit siegessicherer Miene den Tipp ab. Mittlerweile liegt er auf Platz 12 von 13 der Tippgemeinschaft, und Anton hütet sich, seinem Chef einzugestehen, dass er hinter einem Fünfjährigen logiert.

Die Bundesliga

Sobald die Bundesliga dann den Spielbeginn anpfeift, wird es für unsere Familie hart. Jimmy hört die Spiele im Radio mit, denn ein Sky-Abo haben wir ihm bisher verweigert. Dann hören wir unseren Erstgeborenen fluchen und schimpfen, es werden Schiedsrichter beleidigt, Mannschaften gedisst und Schimpfworte an den Kommentator gerichtet. Nicht selten bricht das Kind hemmungslos in Tränen aus. Gründe dafür können sein, dass sein Tipp falsch war, der BVB ein Gegentor kassiert oder ein Spieler des VfB-Stuttgart ein Foul begeht. Die Liste ließe sich noch endlos fortsetzen.

Unsere Familienausflüge oder Freundebesuche sind zeitlich am besten so zu takten, dass wir zur Spielübertragung im Auto sitzen. Luise muss auf Bibi und Tina verzichten und stattdessen SWR-Stadion ertragen, wir erleben ein fieberndes Kind im Kindersitz, das in ohrenbetäubenden Jubel ausbricht, wenn ein Tor der Lieblingsmannschaft fällt. Am Ziel angekommen teilt uns Jimmy mit, dass wir erst aussteigen können, um bei Oma Apfelkuchen zu essen, wenn wir den Abpfiff zur Halbzeitpause gehört haben. Samstagabend ist dann natürlich für die Sportschow reserviert. Und Sonntag geht das Spiel von vorne los, im wahrsten Sinne des Wortes.

Unter der Woche verbringt Jimmy seine Zeit auf dem Fußball-Platz. Ist das Wetter ungemütlich, knallt er am Tischkicker die Bälle ins Tor, spielt mit seinen Playmos die Wochenendspiele nach oder tobt mit Luftballons durch die Bude, die er in imaginäre Netze drischt. Den Überblick über sämtliche Spiel-Termine behält er mit anfangs erwähnter App und nicht selten bringt er mich zum Lachen, wenn er mich fragt, ob er das Champions-League-Spiel am Dienstagabend um 21 Uhr anschauen darf. „Nein, da bist du im Bett und schläfst“, sage ich ihm dann. Leider tritt zweiteres nicht ein, denn wenn ein Spiel läuft, kann Jimmy beim besten Willen nicht einschlafen und muss alle fünf Minuten aufs Klo, um beiläufig zu fragen, wie es denn nun um den Spielstand bestellt wäre. Fällt das Ergebnis nicht zu seinen Gunsten aus, bringen wir einen tränenüberströhmten Jüngling ins Bett, der sich an seinen Teddy krallt und ruft, dass er sich das alles ganz anders vorgestellt habe…

Seitdem Jimmy für den Fußball lebt, löst der Begriff „Englische Woche“ Panikreaktionen in mir aus und auf die Frage, was das Schönste an Weihnachten sei, antworte ich: die Bundesligapause. In diesem Sinne wünsche ich euch allen schöne Weihnachten und bis zum nächsten Jahr, wenn es wieder heißt „Fußball ist unser Leben, ja König Fußball regiert die Welt!“

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