Wie gering unser Einfluss auf diese Entwicklung ist, wird mir immer wieder klar. Anfangs dachte ich noch, dass ich mit der richtigen Erziehung oder der notwendigen Konsequenz aus Jimmy einen selbstständigen, mitfühlenden kleinen Mann mache, der NICHT den ganzen Tag nörgelt. Und Luise würde mit ein wenig Disziplin und Hingabe meinerseits alleine in ihrem eigenen Bettchen schlafen. Mittlerweile sehe ich diese Mutter-Projekte als gescheitert an und finde mich damit ab, dass Jimmy (derzeit) am liebsten angezogen wird wie ein Baby, sich um die Bedürfnisse seiner Angehörigen (noch) nicht schert, am liebsten den ganzen Tag nörgelt und Luise keine Nacht durchschläft. Lieber habe ich mich dazu entschlossen, etwas an mir zu ändern. Und aus diesem Grund und weil mir ein erfahrenes Elternpaar dazu geraten hat, übe ich mich von nun an in Achtsamkeitsmeditation.
Und beginnen tue ich dies nicht nur mit Hilfe einer CD, mit der ich von nun an täglich üben werde, sondern auch in der Achtsamkeit der kleinen Dinge. Diese kleinen Dinge, etwa der Kalender mit den Stiften, der noch auf dem Küchentisch liegt, sind Ausdruck dieses putzigen kleinen Menschleins mit all seinen Eigenschaften, Marotten und liebenswerten Eigenheiten.Luise begegnet mir beim Aufräumen überall. Manchmal bin ich ein wenig wütend, wenn ich ihr Pixibuch-Massaker neben ihrem Bett entdecke. Beim Aufräumen meines Buches, in dem ich wichtige Stellen mit Textmarker markiere, sehe ich, dass sich eine kleine Künstlerin auf der Buchrückseite ausgetobt hat. Wie oft habe ich der Dame Vorträge gehalten, wie sie mit Büchern umzugehen hat. Ich habe gedroht, ihre Bilderbücher in den Keller zu bringen und nie mehr mit ihr in die Bücherei zu gehen. Habe es im Guten versucht und ihr erklärt, dass es teuer ist, zwei Mal im Monat die Bücher zu ersetzen, die sie ausgeliehen und deren Klappen sie komplett rausgerissen hat. Aber es bringt nichts. Lieber schaue ich mir nun in aller Achtsamkeit an, wie liebevoll Luise ihre Püppchen zu Bett gebracht hat, bevor sie in den Kindergarten gegangen ist. Da liegen sie beide, die Babys in rosa. Opa hat das alte Puppenbett meiner Schwester mitgebracht und dort hinein werden die zwei Glatzköpfe gelegt. Das eine hat noch einen Schnuller bekommen, das Fläschchen steht gleich daneben. Luise singt für sie und tröstet, was das Zeug hält.
Und auch für Lala ist gesorgt. Er durfte heute morgen am gedeckten Tisch Platz nehmen, und Luise hatte extra noch ein Ei gekocht. Und so gehe ich durch die Zimmer und finde hier und da ein Zeugnis von ihrem großen Herz. Und noch etwas ist offensichtlich: keine drei Jahre alt ist sie schon jetzt eine echte Pferdenärrin. Die Zeitung mit dem Bericht über das Mini-Schettland-Pony samt Fohlen liegt aufgeklappt auf dem Sofa. In der Küche steht Pferd Sabrina, das gesten abend noch gestriegelt wurde. Ach, da ist ja meine Haarbüste, denke ich, und freue mich, dass auf jeden Fall eines der Kinder eine Zuneigung zu Tieren hat.
Tiere aller Art sind Jimmy nämlich suspekt. Er ist eher ein Kopfmensch, kann mit sich selbst und seinem Gehirn mehr anfangen als mit niedlichen Tierchen. Das kann man überall in der Wohnung sehen. Zwar hat er seit Jahren einen zerzausten Kuschelteddy, aber ansonsten kann er mit Plüsch-, Schleich- oder Legotieren nichts anfangen. Seine Spielzeug-Hinterlassenschaften erzählen eine ganz andere Geschichte: das Magnet-Schachspiel hat vom vielen Bespielen schon diverse Kratzer. Und wenn es irgendwo rumsteht, ist gleich klar, dass er es benutzt haben muss. Denn er spielt am liebsten mit den weißen Figuren und lässt diese stets gewinnen. Umso mehr wundert mich der Spielstand, den ich heute vorfinde. Da muss ich ihn nachher gleich mal fragen.
Außerdem hat er heute morgen, während ich mich gewaschen und angezogen habe, eine Runde Tischkikaninchen gespielt, so nennt er das unter dem Namen „Tischkicker“ bekannte Gesellschaftsspiel mit den Plastikfußballern. Da es keine weißen Trickots gibt, spielt er immer nur auf der roten Seite. Passenderweise ist das der VfB Stuttgart, der zumindest in unserem Hause immer haushoch gegen die blauen Bayern gewinnt. Sein Lieblingsspieler ist „Balldrian“ aus dem Mittelfeld und ich bewundere diesen kleinen Kerl für seinen tiefgründigen Humor.
Am meisten lache ich heute morgen aber, als ich den anfangs erwähnten Kalender sehe. Diese Leidenschaft ist ungebrochen und nach wie vor fliegen in jedem Winkel der Wohnung diverse Kalender herum. Aber seit gestern abend hat sich eine Revolution Bahn gebrochen: Bisher schaute Jimmy nur rein und studierte die Daten, nun aber trägt er auch etwas ein. Und da er nicht schreiben kann, hat er sich etwas ausgedacht: Tage, an denen er in den Kindergarten geht, werden blau markiert. Feiertage sind rot, Ferientage rosa. Kommt Oma oder darf er bei Oma schlafen, erhält der Tag eine grüne Markierung. Damit hat sich Jimmy gestern Abend und heute Morgen beschäftigt. Und wieder staune ich über diesen lustigen Menschen, der tatsächlich mein Sohn sein soll. An mir hat sich seit mehr als 30 Jahren noch nichts gezeigt, das nur ansatzweise geniehaft ist.
Wenn ich allerdings an diesem Jungen sehe, wie schwer es sein muss, wenn einen eine ungenau eingestelle Uhr oder ein zu früh abgerissenes Kalenderblatt zu 5-minütigen Weinanfällen verleitet, bin ich mit meinem einfachen Gemüt sehr zufrieden. Und dann erkenne ich noch, dass es sich bei Jimmy um ein Wesen mit XY-Chromosom handet. Denn wer sonst kommt darauf, nachts stets eine Waffe griffbereit neben dem Kissen deponiert zu haben? Vielleicht gibt es US-Amerikaner in unserem Stammbaum. Jedenfalls stehe ich tiefenentspannt im Kinderzimmer und freue mich auf diese beiden besonderen Personen, die ich mittag wieder abholen werde. Und auch wenn sie mir oft den letzten Nerv rauben, sind sie doch ein besonderes Geschenk. Und die Achtsamkeitsmeditation im Kinderzimmer kann ich wirklich weiter empfehlen.
Es grüßt euch mit einem meditativen Morgengruß
eure Laura