Kindheit ist keine Krankheit

Unser Steinzeiterbe

Wusstet ihr, dass noch eine Menge Steinzeit in uns steckt? Es war damals nämlich so, dass die Kinder von Müttern, die allzu sorglos mit ihrem Nachwuchs umgingen, ganz schnell von wilden Tigern, Wölfen und Füchsen aus der Höhle gezerrt und verspeist wurden. Also kümmerten sich die Steinzeitfrauen wie nervöse Oberglucken um ihren Nachwuchs, allzeit bereit, den Tiger mit der Keule zu verscheuchen, während die Steinzeitpapas sorglos und unbeschwert auf Jagd gingen.

Mein Plan: eine Therapie

Unser steinzeitliches Erbe ist also immer mit uns dabei und so erklärt sich auch dieses beissende und stechende Gefühl, dass uns Mütter immer wieder befällt und uns den Kopf zerbrechen lässt, ob die Kinder gesund, gut entwickelt und bestens sozialisiert sind. Manchmal schießen wir aber, um im Steinzeitjargon zu bleiben, über das Ziel hinaus. Zum Beispiel habe ich mir bei Jimmy eine ganze Menge Sorgen gemacht, die eigentlich unnötig waren. Er war ein Schreibaby, das dauernd nervös und gereizt schien, und so googelte ich tatsächlich den Begriff „frühkindlicher Autismus“ und fand im Netz meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Vielleicht sollte ich den Kinderarzt darauf ansprechen? Auf jeden Fall konnten drei teuer Ostheopatiesitzungen nicht schaden, da war ich mir sicher. Ein Jahr später fiel mir sein linker Fuß auf, der beim Laufen immer nach innen zeigte. Ich dachte über Krankengymnastik nach. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt wies uns auf den fehlenden Mundschluss Jimmys hin und empfahl Logopädie. Die Zahnärztin schickte uns wegen des schiefen Schneidezahns zur Kieferorthopädin, von der wir ein schnullerartiges Plastikdings mitnahmen, das Jimmy nun tragen sollte.

© Fischer Verlag
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In keinster Weise will ich hiermit die Therapien der jeweiligen Spezialisten in Frage stellen. Ich stelle mich nur selbst in Frage, denn meine übertriebene Sorge hat höchstens dazu geführt, dass Jimmy und ich stundenlang in Wartezimmern saßen, die Nachmittage in diversen Praxen verbrachten und uns stritten, weil das Kind zuhause keine Lust auf Zahnspange, Logo-Übungen und Fußgymnatik hatte.

Kein Grund zur Sorge!

Alles erledigte sich nämlich ganz von alleine: Die Osteopathie brachte (nur in unserem Fall) leider nichts, der frühkindliche Autismus war eine Fehldiagnose von Frau Dr. Mutter, der schiefe Fuß begradigte sich, wie vom Kinderarzt vorausgesagt, von ganz alleine, der nicht vorhandene Mundschluss ist ein Familienerbstück und den schiefen Zahn haute sich Jimmy beim Toben einfach selbst raus.

Alle Eltern, die wie ich unter dem Eltern-Angsthasen-Syndrom leiden und dauernd glauben, ein verspäteter Entwicklungsschritt führte geradewegs ins Unglück, dem lege ich das Buch „Kindheit ist keine Krankheit“ ans Herz. Der Kinderarzt Dr. Michael Hauch erklärt hier, warum in einigen Fällen Therapien bei Kindern unnötig sind, vor allem dann, wenn die Eltern schon  mit einer fertigen Diagnose und der Bitte nach Logo-, Ergo- oder sonstigen Therapiestunden in die Praxis kommen, ohne mit dem Arzt überhaupt gesprochen zu haben.

Therapien sind nützlich: es kommt drauf an, für wen!

Natürlich sind Therapien sinnvoll und nützlich, ganz besonders für behinderte oder kranke Menschen. Gerade die brauchen sie dringend, und deshalb kritisiert der Kinderarzt, dass Praxen voll von Kinder sind, die eigentlich eher die Aufmerksamkeit der Eltern, Ruhe im trubeligen Alltag oder Bewegung an der frischen Luft von nöten hätten. Denn Kinder, die unruhig sind, und deshalb schnell den Stempel „ADHS“ erhielten, brauchen in vielen Fällen einfach mehr Auslauf, gerade wenn es sich um Jungs im Alter zwischen sieben und acht handelte. Er beruhigt in seinem Buch die Eltern, die anhand eines x-beliebigen Ratgebers die Entwicklung ihres Kindes kritisch betrachten. Denn Entwicklungsstörungen seien eben auch Definitionssache und jedes Kind entwickele sich in seinem eigenen Tempo (vgl. S. 83).

Der Zwei-jährige, der noch keine Dreiwortsätze bildet, dafür aber Fußball spielt wie ein Profi, ist deshalb genauso „normal“ wie der Fünf-jährige, der nachts noch eine Windel braucht und Bilder malt wie Picasso. Oft fehlt uns das Vertrauen in die eigenen Kinder, die ja nicht als Mangelwesen auf die Welt kommen, sondern mit einer tollen Ausstattung, um dem Leben gewappnet zu sein. Ich selbst halte überhaupt nichts von der sogenannten Frühförderung, Early Englisch-Kursen oder dem Kindergarten-Label „Haus der kleinen Forscher“, und finde mich damit im Buch bestätigt:

Kinder brauchen Papier und Stifte, Sand und Matsch, Klettergerüste und Fahrzeuge. Und sie brauchen den Kontakt zu der vertrauten Erzieherin, die sie bei ihren Aktivitäten unterstützt und hilft, ihre Erfahrungen einzuordnen. (S. 101)

Hoher Druck lastet auf Eltern

Doch noch einmal zurück zu den Therapien: Ich habe Dr. Hauch bei einem Vortrag gehört, in dem er erzählte, dass nur 60 % aller Kinder bis zu einem Alter von 15 Jahren ohne medizinische Therapien durchs Leben gehen. Der Rest hat scheinbar irgendein Defizit, das es auszumerzen gilt. Denn das Kind sei in unserer Zeit für viele Eltern eine Art „Projekt“, das gelingen müsse. Tests, Ultraschalls und Vorsorgeuntersuchungen verunsicherten die Eltern heute teilweise auch, denn was ist, wenn die Ergebnisse nicht so ausfallen, wie gewünscht?

Die Vielfalt an Infos, auch aus dem Netz, durch Ärzte, Hebammen und andere Eltern sind nicht nur von Vorteil, und so schwindet das Vertrauen in das eigene Urteil bereits bei einem lapidaren „Wie, dein Baby dreht sich noch nicht?“, diese Erfahrungen habe ich selbst gemacht.

Eine gewisse Leichtigkeit, Gelassenheit und die Fähigkeit, einfach mal abzuwarten, fehle manchen Müttern und Vätern, attestiert Hauch. Sie lösten die Konflikte ihrer Kinder, griffen zu schnell ein, vermeideten Gefahrensituationen und erwarteten oft von ihrem Kind, dass es leistungsmäßig mindestens „im vorderen Drittel“ mitspielte. Wenn dies nicht der Fall sei, dann müssten doch wenigstens Therapien helfen, so die heutige Meinung.

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Ich war schwer beeindruckt von dem Vortrag, dessen Inhalt in ähnlicher Form auch im Buch zur Sprache kommt. Und ich fühlte mich ein wenig schlecht, weil ich in den letzten Jahren zu wenig in Jimmys Entwicklung vertraut hatte. „Lieber eine Therapie zu wenig“, war das Schlusswort, das Dr. Hauch den Zuhörern mit auf den Weg gab. Und zuhause habe ich sofort unseren Gummischnuller in den Mülleimer geworfen.

Vielen Dank an den Fischer Verlag, der mir das Buch von Herrn Hauch als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Dr. Michael Hauch: Kindheit ist keine Krankheit, Frankfurt am Main, August 2015, 316 Seiten, 14,99 Euro.

© Fischer Verlag
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