„Hallo Sigurdsson“, sage ich, als ich die Kühschranktür öffne. Ich nehme mir die Milch heraus und stelle sie auf die Küchenplatte, um mir einen Kaffee zu machen. „Nimm doch den hier“, sagt Sigurdsson, und zeigt auf die Flasche isländischen Schnaps. „Du siehst aus, als könntest du einen gebrauchen.“
„Ach danke, aber wenn ich jetzt nachmittags anfange, Schnaps zu trinken, ist das das Ende,“ sage ich. Erst neulich habe ich beschlossen, unter der Woche abends kein Glas Wein mehr zur Entspannung zu trinken, weil das so sehr zur Gewohnheit wurde. So stand ich dann abends auf der Terrasse und begegnete meinem rauchenden Nachbarn, der mich auf eine Zigarrette einlud. Als ich am Glimmstengel zog, wurde mir bewusst, dass es eine ziemlich dämliche Idee ist, mit dem Rauchen anzufangen, damit ich nicht mehr trinke. Also aß ich am nächsten Abend eine Tafel Schokolade. Seit dieser Woche sind mir alle Hosen zu eng. Nun denke ich darüber nach, mit dem Häkeln anzufangen, Yoga zu machen oder Gitarre spielen zu lernen. Es mag mir alles nicht so richtig gefallen.
„Wieso bist du denn abends so unentspannt, dass du was zum Runterkommen brauchst?“, fragt mich Sigurdsson. Ich schaue in Sigurdssons schönes Gesicht und hätte wirklich Lust, den Flieger zu nehmen und zu ihm nach Island zu fliegen. Eine Woche wilde Natur, eine kuschelige Hütte, ganz viel Ruhe und einen Stapel Bücher.
„Ach weißt du, Sigurdsson, ich merke immer wieder, dass meine Situation so aussichtslos ist. Ich bin nun seit acht Jahren die meiste Zeit zuhause mit den Kindern und habe das mit dem Haushalt ganz gut im Griff. Das ist so, weil ich es eben über die Jahre geübt habe. Um nicht den Überblick über all unsere Sachen, die Termine und unseren anderen Kram zu verlieren, habe ich ein perfektes System entwickelt. Ich weiß, wie ich die Zimmer in Ordnung halte, wie ich die Wäsche schnell und effizient verarbeite, wie ich unseren Kalender pflege und die Garderobe der Kinder aktuell und auf Vordermann halte. Das ist aber auch gleichzeitig das Problem: weil ich das so gut kann, habe ich den ganzen Kram auch an der Backe. Alle verlassen sich auf mich und sind es gewohnt, dass der Haushalt läuft wie geschmiert.“
„Sei mir nicht böse, aber bist du daran dann nicht auch ein bisschen selber schuld?“, fragt mich der Mann auf dem Joghurt-Becher. „Lass den ganzen Kram doch einfach mal liegen!“ „Ach Sigurdsson, das ist mal wieder typisch. Wenn es nur so einfach wäre. Aber auch du scheinst das Problem nicht zu verstehen.“ Ich schließe die Kühlschranktür und bin beleidigt, mache sie dann aber doch noch einmal auf.
„Weißt du, Sigurdsson, wie mir dieser Vorwurf auf die Nerven geht?“, sage ich. „Ich habe dieses perfekte System aus der Not heraus entwickelt, weil ich anfangs selber im Chaos versank. Als ich damals die erste Zeit mit meinem Baby zuhause war, ging alles schief. Ich hatte vergessen, Windeln zu kaufen. Unterwegs merkte ich, dass ich keinen Schnuller dabei habe. Dann verlor ich den Überblick über die Tage und ein Kinderarzttermin ging mir durch die Lappen. Also begann ich, Listen zu führen, die Wickeltasche immer vollstädig zu packen und mir einen Kalender zuzulegen. Über die Jahre kamen noch zwei Kinder auf die Welt und ich schaffte mir mein perfektes System an. Nicht, weil ich so ein Freak bin, sondern weil es mit drei Kindern manchmal einfach nur darum geht, den Kopf über Wasser zu halten und nicht unterzugehen. Und nun sagst du, ich sei selber Schuld, dass alles an mir hängen bleibt.“
„Jetzt komm mal wieder runter, so habe ich es ja nicht gemeint.“ Mir ist sowieso schleierhaft, wie es dazu kommen kann, dass einer alleine für Haushalt und Kinder zuständig ist. Bei uns in Island…“ „Ja, ja“, unterbreche ich Sigurdsson genervt“, „bei euch in Island ist sowieso alles besser. Gleichberechtigung, Männer, die sich um den Haushalt kümmern, Kitas für alle und Frauen, die auf die Straße gehen, wenn ihnen etwas nicht passt. Bei uns in Deutschland ist das leider anders. Da gehen die Männer maximal für zwei Monate in Elternzeit und sind dann wieder im Büro. Es gibt sogar Studien, die belegen, dass sie nach der Geburt der Kinder sogar noch mehr arbeiten als vorher. Kitaplätzen sind lange nicht genug vorhanden und leider ist es sehr schwer, die Frauen zu mobilisieren. Dann ist hier noch dieses spezielle Mütterbild: die deutsche Frau kümmert sich um ihre Familie und die Kinder, sonst ist sie keine gute Mutter.
Ich saß neulich bei meiner Freundin aus Schulzeiten am Tisch und ihre Mutter sevierte Apfelkuchen. Sie fragte mich, was ich beruflich mache, oder ob ich wegen der Kinder meinen Job erst einmal ausblende. Ich habe dann gesagt, dass ich momentan lieber die Kinder ausblenden möchte. Daraufhin ist ihr vor Schreck fast der Becher mit Sahne aus der Hand geglitten und wir haben schnell das Thema gewechselt. Eine Mutter, die sich mal nicht um die Kinder kümmern will? Damit stoße ich die Menschen um mich herum vor den Kopf. Auch dieses Bild, wie eine Mutter zu sein hat, führt doch dazu, dass wir nachher ein dickes, fettes mentales Problem haben und uns der Kopf raucht, weil wir uns selbst verloren haben vor lauter Gekümmer.“
„Ich fasse zusammen“, sagt Sigurdsson: „Du bist völlig fertig mit den Nerven, weil du dich laufend um Haushalt, Familie und Kinder kümmern musst. Alle haben sich daran gewöhnt, dass du dich kümmerst und du denkst, dass ihr euch ohne dein perfektes Organisationsproblem alle ins Chaos stürzt und kannst außerdem nicht davon lassen, weil du das Gefühl hast, also gute deutsche Mutter bist du für die Kümmerei verantwortlich.“ „Wunderbar, Sigurdsson, genauo so!“, antworte ich, und möchte applaudieren.
„Wir Isländer und Isländerinnen gehen Probleme immer folgendermaßen an. Wir setzen uns gemeinsam ums Feuer, öffnen eine Flasche Brennivín und machen uns nackig. Also seelisch nackig, meine ich. Wir reden als erstes über das, was uns tief in der Seele brennt. Es gibt ein altes, finnisches Sprichwort: Besser ein brennender Schnaps in der Kehle als ein brennendes Problem auf der Seele. Daher setzt du dich mit deinem Mann heute Abend mal an den Tisch, schenkst ein Schnäpschen aus und erzählst von deinem Problem. Das ist ja nicht zum Aushalten hier bei euch in Deutschland. So kann doch kein Mensch leben. Du musst diese mentale Last loswerden, sowohl diese ewige Kümmerei als auch den Druck, eine gute deutsche Mutter zu sein. Schließlich bist du ja in erster Linie ein Mensch. Ich habe manchmal das Gefühl, ihr Deutschen habt einen Stock im Hintern. Tut mir leid, dass ich das so sage, aber ihr seid immer so verbissen und pflichtbewusst. Werdet einfach mal lockerer und seht ein, dass ihr eigentlich alle das gleiche Problem habt. Anstatt dass jede Frau alleine in die Kissen zu weint, setzt euch lieber ums Feuer, nehmt einen guten Schluck und fangt an zu quatschen. Finde ich sowieso seltsam, euer Konzept von einer Frau zuhause, die alleine und ohne Freunde, Verwandte und Nachbarn für ihre Kinder zuständig ist. Kein Wunder, dass man dann jeden Abend einen Schnaps trinken möchte oder anfängt zu rauchen.“
Ich schaue Sigurdsson an, diesen netten Kerl, und wünschte mir, er wäre wirklich hier. Dann würde ich ihn mal feste drücken, denn es tut so gut, wenn ein Mann dieses Frauen-Problem versteht. Ich nehme mir vor, seinen Vorschlag umzusetzen und heute Abend mal in Ruhe mit Anton zu reden, bei einer Tasse Tee.
Bleib fröhlich und unperfekt, deine Laura
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