Stammtischparolen auf dem Schulfest
Nach einem Klassenfest im Sommer hatte ich die Nase voll. Mal wieder hatte eine Frau bei Kuchen und Butterbrezeln geäußert, dass geflüchtete Menschen hier zu viele Sozialleistungen bekämen. „Ältere deutsche Damen mit wenig Geld müssen ihre Brillen selber bezahlen, DIE dürfen sich eine Markenbrille aussuchen“, lamentierte sie mit vollem Mund. Ohne Daten und Fakten, ohne Hintergründe und genauere Umstände knallte sie Stammtischparolen auf den Tisch, bekundete ihre Sympathie zur AfD und versaute mir das Fest. Abends regte ich mich vor Anton mal wieder kräftig auf und polterte los: „Nie wieder setze ich mich mit solchen Menschen an einen Tisch. Immer dieses sinnlose Geschwätz. Den Geflüchteten die Schuld in die Schuhe schieben und sich selber leid tun. Es nervt mich unglaublich und es macht mich wütend. Sollte noch einmal einer vor mir erwähnen, er wähle die AfD, beende ich das Gespräch und gehe.“
Meine Filterblase ist ganz meiner Meinung
Anton, der immer die Nerven behält und sachlich argumentieren kann, zweifelte an meinem Entschluss. Und weil er mich immer wieder zum Nachdenken bringt, war ich mir auch selbst nicht mehr so sicher, ob es wirklich sinnvoll ist, Gespräche mit AfD-WählerInnen kategorisch auszuschließen. Am nächsten Tag meldete ich mich dann in unserer Wochenzeitung DIE ZEIT bei der Aktion „Deutschland spricht“ an, einer Plattform für politische Zwiegespräche. Ziel dieser Plattform soll es sein, Menschen mit unterschiedlichen Meinungen an einen Tisch zu bringen. Tatsächlich lebe ich ja die meiste Zeit in meiner Filterblase. Meine Familie und meine Freunde denken ganz ähnlich wie ich: Sie sind tolerant, sehr sozial, engagieren sich teilweise ehrenamtlich und wählen die politische Mitte, manche eher linksgerichtete Parteien. Wir sind fast immer einer Meinung und streiten höchstens über Feinheiten. Dass wir als reiches Land verpflichtet sind, geflüchetet Menschen in Not aufzunehmen, ist für uns alle glasklar.
Ich beantwortete für die Aktion zehn Fragen, zum Beispiel, ob uns die #MeToo-Debatte weitergebracht hat (ja!), ob Nicht-Muslime und Muslime in Deutschland friedlich miteinander leben können (ja!) oder ob es den Deutschen schlechter gehe als noch vor zehn Jahren (nein!), schickte die Antworten ab und wartete. Nach ein paar Wochen wurde mir mein Gesprächspartner mitgeteilt, mit dem ich mich an einem Sonntag Ende September treffen sollte. Ich war gespannt, wie mein kleines Experiment laufen würde. Sollte ich meine Meinung ändern und mich wieder an den Tisch setzen, wenn einer seine AfD-Parolen auspackte? Es sollte alles anders kommen als geplant.
Das Nachbarschaftsfest
Einen Abend vor dem großen Deutschland spricht-Tag fand vor unserer Tür ein großes Nachbarschaftsfest statt. Wir saßen gemeinsam an langen Tischen, grillten und tranken kühles Bier, die Kinder spielten miteinander. Die Stimmung war gut wie erwartete, denn wir haben mit all unseren Nachbarn ein sehr freundschaftliches Verhältnis. Besonders schätze ich die Hilfstbereitschaft und die verschiedenen Nationen, die in unserer Straße aufeinander treffen. Ich saß zufälligerweise am Männertisch, an dem sich Jorge aus Argentinien, Selcuk aus der Türkei, Han aus China, Tom aus Kroatien sowie Anton, Peter und Jakob gerade durch die Schnapsarten ihres Heimatlandes probierten. Peter und Jakob, die wie Anton als Spätaussiedler nach Deutschland kamen, stellten ein Flasche Wodka auf den Tisch. Nach der ersten Runde kam es wie es kommen musste! Jakob regte sich auf, dass in unserem Ort bald ein Flüchtlingsheim gebaut werden soll. „Sie machen den gleichen Fehler wie mit uns damals und packen alle auf einen Haufen, das ist keine Integration!“ Ich gab ihm recht, aber er fügte hinzu: „Aus diesem Grund wähle ich die AfD!“ Oh nein, dachte ich, da habe ich wieder die Diskussion, die ich doch meiden wollte. Eigentlich müsste ich nun aufstehen und das Gespräch abbrechen. Aber was solls, dachte ich mir, dann muss ich da wohl durch. Auf meine Frage, ob ihm denn klar sei, dass das Wahlprogramm der AfD kaum sinnvolle und gute Inhalte hätte, antwortete er, dass ihn das nicht interessiere. Er wähle die Partei aus Protest gegen den Bockmist, den die Große Koalition verzapfe. Die machten keine Politik für ihn, den Mann aus der Mittelschicht, der hart arbeite und viele Steuern bezahle.
Das AfD-Wahlprogramm für Reiche
Ich quatschte mich warm, erläuterte ihm, dass die AfD den Euro abschaffen will und den Euroraum verlassen möchte. Er möge bitte mal einen Blick nach Großbritannien werfen, was das für ein Land wirtschaftlich bedeuten wird. Die AfD ist außerdem gegen eine Vermögenssteuer und möchte die Erbschaftssteuer abschaffen. Darüber freuten sich vor allem die Reichen in Deutschland. Der Mann aus der Mittelschicht, der hart arbeite, der habe davon leider herzlich wenig. Der aktuelle Programm-Entwurf der AfD beinhalte keine Aussagen zu Kulturförderung oder dem Jugendschutz für unsere Kinder. Auch die globale Erderwärmung empfindet die AfD nicht besonders bedenklich, den Schaden von CO2 sieht sie als nicht bewiesen und schreibt in ihrem Wahlprogramm, dass „wissenschaftliche Untersuchungen zur langfristigen Entwicklung des Klimas aufgrund menschlicher CO2-Emissionen sehr unsicherheitsbehaftet“ seien. Im Gegensatz dazu gibt es Stimmen in der Großen Koalition, die sich für eine CO2-Steuer aussprechen, denn wer den Schaden der CO2-Emissionen betrachtet und diese folgerichtig besteuert, verteuert das Leben der Reichen, die viel fliegen, in überdimensionalen Häusern leben und große Autos fahren. Die AfD möchte den öffentlich rechtlichen Rundfunk verschlanken und das Fernsehen stärker privatisieren. Die Sportschau am Samstag, die Peter so gerne schaut, könnte demnach bald zahlungspflichtig sein wie die Bundesligaspiele auf Sky. Dann füge ich noch hinzu, dass ich mir nicht so sicher bin, was wohl die AfD vor 30 Jahren zur Integration der Spätaussiedler gesagt hätte. Ich kann es mir außerdem nicht verkneifen in die Runde zu werfen, dass Mitglieder der AfD laut Franziska Schreiber, einer Partei-Aussteigerin, Reden Joseph Goebbels rhetorisch analysiert haben, um in ihren eigenen Reden die Massen entsprechend zu mobilisieren.
Jakob schaute mich an und setzte zu neuen Protestbekundungen an. Ob ihn eines meiner Argumente überzeugt hatte, darüber war ich mir nicht sicher. Aber ich hatte kapiert, wieso so viele Menschen die AfD wählen. Sie haben sich überhaupt nicht mit deren Wahlprogramm auseinandergesetzt, sie lesen nicht in der Zeitung, dass AfD-Landesvorsitzende mit den übelsten Nazi-Typen befreundet sind und nach Terroranschlägen in Berlin erst einmal in ihren Facebook-Gruppen gefeiert haben. Sie wählen einfach aus Wut und dem Gefühl der Machtlosigkeit. Mein Verständnis für besorgte Wohlstands-Bürger hält sich sehr in Grenzen und meine Wut auf die AfD und ihre gruseligen Knallchargen im Bundestag ist unbändig, aber eines werfe auch ich den Politikern in Berlin vor. Es wird nicht genug zugehört und geredet. Sollen wir es da nicht besser machen?
Schwerer als gedacht: Toleranz für andere Meinungen
Wir palaverten bei einem zweiten Bier noch darüber, warum wir auf unser Deutschsein stolz sein können (ich bin vor allem auf meine Leistungen stolz, nicht auf Zufälligkeiten, auf die ich keinen Einfluss habe) und ich wurde langsam müde, mich weiter festzuquatschen. Aber ich habe eines gemerkt: auf meine Nachbarn bin ich angewiesen, ich brauche sie und sie brauchen mich. Ich kann nicht einfach aufstehen und Jakob sagen, dass ich nicht mehr mit ihm rede. Und ich mag ihn, obwohl ich seine politischen Ansichten absolut nicht teile. Mit Andersdenkenden in Kontakt sein, das ist heute wichtiger denn je.
So wie ich bei geflüchteten Menschen die wunderbare syrische Familie im Kindergarten meiner Tochter vor Augen habe, so habe ich nun bei AfD-Wählern Jakob vor Augen, der so gutes Schaschlik macht und ein lieber Papa von drei Mädchen ist. Vielleicht ändert Jakob seine Meinung, vielleicht waren ein paar meiner Argumente für ihn schlüssig. Könnte ja sein, dass er sich das Wahlprogramm der AfD nun näher anschaut und über meine Worte nachdenkt. Könnte sein, dass er es nicht tut. Aber das Risiko war es mir wert.
Deutschland spricht
Ich habe mich am nächsten Tag im Rahmen der Aktion „Deutschland spricht“ mit Emanuel getroffen, einem sehr sympathischen jungen Mann aus Stuttgart. Wir hatten ein tolles Gespräch bei Bircher Müsli und Cappuccino in einem schnuckeligen Café und waren uns politisch in allen Punkten einig. Ich war ehrlich gesagt auch froh, dass wir ein wenig falsch gematcht wurden und die Fragen völlig gleich beantwortet haben. Denn gestern Abend hatte mir fürs erste gereicht und ich bin mir sicher, dass die nächste Diskussion nicht lange auf sich warten lässt. Da stärke ich mich gerne bei einem schmusigen Argumenteaustausch in meiner Filterblase und dem gemeinsam unterstrichenen Tenor, dass Horst Seehofer sowieso an allem Schuld ist.
Aber bei meinen schwierigen Diskurs mit Jakob habe ich begriffen! Wir müssen sprechen und wir müssen kommunizieren. Denn wenn wir das nicht mehr tun, dann steht es wirklich schlimm um unsere Gesellschaft. Wir dürfen uns nicht dafür entscheiden, den Tisch zu verlassen, weil wir die Argumentationen leid sind. Wir dürfen nicht verstummen und resignieren, im Gegenteil: wir müssen zuhören und den anders Denkenden begegnen. Und wir müssen laut werden. Laut werden gegen den Rechtsruck in unserer Gesellschaft.
Bleib fröhlich und unperfekt, deine Laura
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