Blog

Integrationsklasse – nein Danke! Eine Kurzgeschichte über besorgte Eltern

Soziales Verhalten beginnt im Sandkasten

Irgendwo in einem beliebigen Dorf, auf irgendeinem Spielplatz, in irgendeinem Sandkasten, spielt sich immerzu das Gleiche ab: Mütter sitzen auf der Bank und predigen lauthals gutes Benehmen, Toleranz und Gerechtigkeit. „Emil, gib dein Schäufelchen auch mal ab!“, „Mia, bitte teil deine Spielsachen mit den anderen Kindern!“, „Nein, Luis, der Spielplatz ist für alle Kinder da, deshalb dürfen auch alle im Sand spielen!“.

Und so sollen Emil, Mia, Emma und Luis bitteschön lernen, wie geteilt wird, wie sie sich gut benehmen sollen, und dass alle Kinder ein Recht auf Freizeitvergnügen auf öffentlichen Einrichtungen haben. Zum Sozial-Benehmen gehört natürlich auch das „Danke“, „Bitte“ und „Auf Wiedersehen“ beim Metzger sowie der freundliche Handschlag am Morgen im Kindergarten.

Na klar, gutes Benehmen ist in einer funktionierenden und friedlichen Gesellschaft wichtig. Wir wollen miteinander klar kommen, wir möchten, dass unsere Kinder sich zu benehmen wissen und sich anderen gegenüber freundlich und sozial verhalten. Wir sind so stolz auf die Kleinen, dass sie sich schon mit drei Jahren um das kleine Geschwisterchen kümmern, in der Kita viele Freunde haben und fremde Kinder auf dem Spielplatz trösten, wenn diese hingefallen sind. „Ach, ist mein Kind sozial“, prahlt Emmas Mama, „sie kümmert sich immer um die Schwächeren!“

playground-928553_1920

Jetzt hört der Spaß auf

Kindergartenzeit, schöne Zeit. Hier ist das Leben noch wie in Bullerbü, und der Ernst des Lebens kann noch eine Weile draußen warten. Aber wehe, es beginnt die Schulzeit. Kaum werden Luis und Emma „Vorschulkinder“ genannt, machen sich ihre Eltern die ersten Sorgen. Vom Schulranzen über den Schreibtisch werden die tollsten und teuersten Dinge angeschafft und alles dafür getan, dass der Nachwuchs ja keinen Nachteil gegenüber den anderen Kindern hat. Luis Mama übt nachmittags heimlich mit ihrem Sohn das Schreiben, und Emmas Mama hat ein Übungsbuch gekauft, das sich an Vorschüler richtet und ihnen beibringen soll, Kurven und Wellen zu malen. „Dann fällt ihr das Schreiben lernen leichter“, argumentiert sie auf dem Info-Elternabend für künftige Schulkinder.

Überhaupt geht es ernst zu, auf Veranstaltungen dieser Art. Im Kindergarten wird aufgeklärt, was I-Männchen und ihre Eltern erwartet. Wie können die Kindergartenkinder gefördert werden, dass sie ja den Stift gerade halten, sich die Schuhe zubinden und auf einem Bein hüpfen können? Wäre ein Jahr Logopädie für Emil sinnvoll, immerhin kann er das SCH nicht sauber sprechen. Emils Mutter ist nervös, denn ihr Bürschlein ist ein Spätzünder. Ihr graut es davor, dass er in der Schule nicht mitkommt und am Rechnen und Schreiben scheitert wie bisher am Fußball und der musikalischen Früherziehung. Sowas gab es in der Familie bisher noch nicht, denn die Vorfahren Emils sind alle promovierte Ärzte, vom Uropa bis zum Vater.

Der Schock

Nach dem Kindergarteninfoabend folgt eine ähnliche Veranstaltung in der neuen Grundschule. Noch vier Monate, dann ist es soweit. Die künftige Lehrerin empfängt die aufgeregten Eltern, die allesamt Babysitter engagiert haben, damit Papa und Mama gemeinsam zu diesem wichtigen Event gehen können. Die Rektorin spricht ein paar warme Worte, dann ist die junge Lehrerin dran. Erst erzählt sie von sich, sie scheint freundlich und lieb zu sein. Dann spricht sie etwas aus, dass den Eltern von Luis, Emma, Emil und Mia den Mund offen stehen lässt: „Die Klasse ihrer Kinder wird eine Integrationsklasse sein. Das bedeutet, dass ihre Kinder gemeinsam mit fünf behinderten Kindern unterrichtet werden. Die Kinder haben ganz unterschiedliche Behinderungen. Eines hat eine Konzentrationsschwäche, ein anderes Kind sitzt im Rollstuhl. Wir haben einen Jungen mit leichtem Autismus dabei und ein Kind, das seit Geburt an spastischer Störung leidet. Außer mir wird es eine weitere Lehrerin geben, die extra für das Lernen mit behinderten Kindern ausgebildet ist. So werden alle Kinder entsprechend ihres Entwicklungsstandes unterrichtet. Es entsteht kein Nachteil für Ihre Kinder. Im Gegenteil, Ihre Kinder profitieren von zwei Lehrerinnen, von der Gemeinschaft und dem gegenseitigen Respekt füreinander.“

Emils Mutter weiß nicht, was sie sagen soll. Das darf doch alles nicht wahr sein. Auch Mias Eltern können es kaum glauben. Ihre Mia soll in eine Integrationsklasse? Warum wird dies keine Klasse wie die drei anderen? Können sie die Klassen noch wechseln? Was ist, wenn Mia nicht so schnell lesen lernt, weil da so ein paar Kinder sind, die immerzu extra Förderung brauchen? Die die anderen vom Lernen abhalten, und Mia dann einen Nachteil davon zieht? Luis Vater steht auf und empört sich lautstark. „Da hätten wir Eltern ja wohl noch was mitzureden“, ruft er laut. „Wo sind wir denn hier? Wir leben schließlich in einer Demokratie, und da müssen wir gefragt werden.“ Emmas Mutter ist kreidebleich. Wozu fährt sie in diesem Sommer mit Emma nach England, damit die schon mal ein paar Wörter auf Englisch sprechen kann, wenn sie in eine Grundschulklasse kommt, in der geistig behinderte Kinder sitzen? Womöglich wird hier gar kein Wert auf Fremdsprachen gelegt, sondern die Lehrer müssen gucken, dass die Kinder überhaupt die deutsche Sprache beherrschen!

school-543041_1920

Integrationsklasse? Nicht mit uns!

Nachdem dieser Abend im Streit endet, finden sich ein paar Eltern in der darauf folgenden Woche im Gemeindehaus ein, um einen Beschwerdebrief an die Schulleitung zu formulieren. Sie möchten nicht, dass ihre Kinder in eine Integrationsklasse kommen, dafür werden sie eintreten, und zwar mit einer Unterschriftenliste. „Wäre ja noch schöner, wenn unsere Kinder in der vierten Klasse keine Gymnasialemfpehlung bekommen, weil so ein paar Behinderte alle vom Lernen abhalten“, ruft eine Mutter. Dabei wohnt sie in der Neubausiedlung zwei Häuser weiter weg von der Familie von Johannes, dem Jungen mit der Spastik. Früher, als Luis und Johannes noch klein waren, haben sie zusammen im Sandkasten gespielt. Und Luis Mutter hat immer Wert darauf gelegt, dass ihr Sohn den tollen Bagger und die riesen Schaufel auch mal abgibt. „Jetzt ist Johannes dran“, hat sie von der Gartenbank aus gerufen. Luis und Johannes waren immer gute Freunde. Das lag auch daran, dass Johannes immer so lustig und gut gelaunt ist. Die beiden spielen so schön zusammen, da waren sich beide Mütter einig. Und Luis Mutter hat gemerkt, dass Johannes Art Luis richtig gut tut.

Aber dass Johannes mit seinen Krämpfen und seiner seltsamen Aussprache in die gleiche Klasse wie Luis kommen soll, daran hätte sie im Traum nicht gedacht. Hier geht es schließlich um die Schule, ums Lernen und um den späteren beruflichen Erfolg ihres Sohnes, hat sie ihrem Mann gesagt, und ihre Unterschrift unter die Liste gesetzt.

Gutes Benehmen, das ist Eltern immer so wichtig. „Bitte“ und „Danke“ sagen, den Bagger abgeben, andere mitspielen lassen und Verletzte trösten. Aber bei der Schule, da hört der Spaß schließlich auf, oder?

Ps.: Achtung, dieser Beitrag ist als eine Kurzgeschichte zu lesen. Die Personen sind frei erfunden und deren Meinung enstpricht in keinster Weise der Auffassung der Autorin.

Merken

Merken

Merken

Merken

18 Comments

  1. Das eigentliche Problem ist doch, dass nur sehr wenige Menschen Kontakt zu Menschen mit Behinderung haben bzw. jemals hatten. Die jetzige Generation hat das Glück, durch Inklusion mit allen Facetten, die diese Welt zu bieten hat, aufzuwachsen. Es wird ein langer Weg, aber es wird so bereichernd für alle Beteiligten sein. Ich selber habe keine eigenen Kinder, aber ich darf durch meine Arbeit andere Kinder auf einem Stück ihres Lebensweges begleiten. Dafür bin ich so unfassbar dankbar. Wir Erwachsenen können so viel von ihnen lernen. Jedes Kind ist ein besonderes Kind, ob mit oder ohne Behinderung. Und jedem Kind sollte es ermöglicht sein im vollen Umfang an der Gesellschaft teilzuhaben und sie dadurch zu bereichern!
    Natürlich stehen die Kinder mit Behinderung als Beispiel. Ich meine auch Kinder mit Migrationshintergrund oder aus anderen Gründen benachteiligte.
    Ach, übrigens eine tolle Kurzgeschichte…

    • Liebe Anja, absolut! Die Separation ist für einen Menschen immer das schlechteste. Das Gefühl, zur Gemeinschaft dazu zu gehören, stärkt und tut gut. Ich merke das an meinen Kindern. Für sie ist es so wichtig, wie alle sein zu dürfen. Liebe Grüße, Laura

  2. Liebe Laura, ich bin Erzieherin und arbeite in einer Integrationsgruppe mit Kindern aus verschiedenen Ländern, mit Integrationskindern mit Entwicklungsstörungen. Die Kinder lernen voneinander und miteinander zu leben. Wenn wir sie jetzt separieren, wie sollen sie denn dann lernen später miteinander zu leben? Sigrun’s Meinung, solche Kinder in Förderschulen zu stecken besser wäre, ist allerletzte! So was kann nur jemand meinen, der gegen eine bunte Welt ist! Deutsches Schulsystem schadet vielen Kindern genug, indem sie die Kinder von klein an klazifiziert: du bist nicht gut genug, ab zur Hauptschule! Du hast nicht die besten Noten, ab in die Förderschule! Die armen Kinder.

    • Liebe Serpil, ich bin in jedem Fall für eine bunte Welt und meiner Meinung nach lernen Kinder so viel mehr, und zwar voneinander: Rücksicht, Toleranz und Respekt. Das ist für mich wichtiger als Leistung und Wettbewerb. Ich bin immer für Inklusion, absolut. Und vor allem für die Integration von geflüchteten Kindern. Daher müssen wir von der Politik fordern, dass sie mehr Geld in Personal und geschulte Pädagogen stecken. Davon profitieren wir alle. Danke für deinen Kommentar. Liebe Grüße von Laura

    • Sigrun Jäger Reply

      Nein ganz und gar nicht. Wir sind eine multikulturelle Familie das nur schon mal vorab. Aber zur Zeit so wie es in vielen Schulen bei uns in NRW läuft klappt der Traum alle zusammen keine Trennung einfach nicht. Es fängt in den Köpfen an da geb ich euch allen recht aber da sind wir schon recht weit aber bei Personal Gehältern Geldern Material ect. Sind wir soweit weg das es nur ein schöner Traum ist. Zur Zeit würden alle Kinder nur darunter leiden . Man muss auch mal realistisch bleiben. Man kann nichts übers knie brechen.

  3. Bei uns ist das Problem eben der lehrermangel . Viele Flüchtlingskinder und die Grammatik meiner Tochter wird immer schlechter, leider . Der Sohn meiner besten Freundin hat seid Geburt Spastik und geistige Behinderungen. Er ist auf einer förderschule. Und solange es an ausgebildeten Lehrern und integrationshelfern mangelt sind förderschulen für viele Kinder die bessere Lösung . Bei uns wäre Integration nicht möglich da wir fast 4 Monate eine Lehrerin für drei 1 . Klassen hatten. Da bleibt eh schon alles auf der Strecke. Wenn die Bedingungen stimmen profitieren alle Seiten von integration gar keine Frage. Meine Kinder dürfen ohne nachmittagstermine und Förderwahnsinn groß werden. Ich hoffe das endlich Geld und Arbeit in unsere Bildung investiert wird damit Integration endlich Wirklichkeit werden kann. Als integrationshelferin an einer förderschule sehe ich da noch sehr viel bedarf denn selbst dort kann man sich kauf um jedes Kind ausreichend kümmern. Viele dort sind einfach nicht beschulbar in dem jetzigen System dank Schulpflicht leiden dann ausgerechnet die Kinder die es sogar schaffen könnten ihren Weg in die Gesellschaft zu finden . Ich sehe also nicht nur die Eltern die angst vor Nachteilen für ihre Kinder haben sondern auch die Machbarkeit als Problem an.

    • Liebe Sigrun, danke für deinen Kommentar. Und ja, ich stimme dir zu. Mittlerweile sehe ich auch, dass es einfach zu wenig Personal gibt. Inklusion funktioniert aber nur dann, wenn geschulte Pädagogen dabei sind – das kostet dann natürlich. Ich bin froh, dass mein Sohn auf einer staatlichen Grundschule ist, an der die Rektorin sehr viel Wert auf Inklusion legt und auch darauf, dass sie funktionieren kann. Liebe Grüße, Laura

  4. Pingback: Alles Inklusive von Mareice Kaiser - Heute ist Musik

  5. Ich kenne so eine Situation nicht persönlich, aber ich kann sie mir (leider) sehr lebhaft vorstellen… Ja, dieses „aber“! Am schlimmsten finde ich den elterlichen (! – die meisten Kinder sehen das vermutlich eh anders) Egoismus in der Sache – ganz abgesehen davon, dass ein elitärer Schulerfolg noch lange keine Garantie für ein geglücktes Leben ist, aber das spricht sich anscheinend nur sehr langsam herum. Wer von diesen Eltern hat schon mal drüber nachgedacht, dass man sich ein behindertes Kind i.A. nicht aussucht?! Und dass diese Kinder eben andere Qualitäten haben, wie Luis‘ Mutter in der Geschichte ja auch feststellt? Sollen sie in ein Ghetto gesperrt werden?! Dass (messbarer) schulischer Erfolg aber auch so gern über alles gestellt wird, obwohl niemand weiß, wie das Leben der Kinder sich entwickeln wird, es ist echt ein Jammer.

    • Liebe Angela, danke für dein Kommentar, dem ich nur beipflichten kann. Kinder haben heute ja keine Zeit mehr, glücklich und entspannt zu sein. Da wird schon im Kindergarten Wert auf Englisch und Zahlen lernen gelegt, nachmittags geht es von Kurs zu Kurs. Der Schuldruck geht in der Grundschule los und nachmittags gibts dann noch Nachhilfe. Herzensbildung wäre da meiner Meinung nach wichtiger, und das beinhaltet Lernen in einer bunt gemischten Klasse, mit Flüchtlingen, behinderten Kindern und solchen, die das große Glück haben, ganz gesund zu sein. Liebe Grüße, Laura

  6. Ich kann diese Erfahrung leider auch teilen, wenn auch nicht so heftig.
    Es wurde besorgt nachgefragt, schließlich würden ja auch schon Flüchtlingskinder in die Klassen kommen und überhaupt man habe da ja nix gegen aber man mache sich Sorgen …. die ganzen kleingeistigen Ressentiments brachen sich da Bahn. Die Menschen wissen einfach immer noch zu wenig über inklusive/integrative Arbeit. Folgen von jahrzehntelangem separieren und der Vermittlung des Elitegedankens.
    Da liegt noch viel Arbeit vor uns als Gesellschaft. Ich bin sehr froh das meine Kinder schon in Schule und Kita sehen das Menschen verschieden sind und das das vollkommen ok ist.

    • Liebe Claudia, dieser Satz: „Ich habe ja nichts gegen Behinderte / Flüchtlinge / Homosexuelle / Muslime…., aber“ sagt schon alles. Und ich bin mir sicher, dass diese Einstellung ein Grundproblem unserer Gesellschaft ist. Wenn mein Sohn nächstes Jahr in die Schule kommt, wäre ich froh, wenn seine Klasse ein buntes Bild unserer Gesellschaft abgibt. Und er so lernt, dass der Satz „Ich habe ja nichts gegen xxx, aber“ der Anfang von allem Schlechten ist. Alles Liebe

  7. Leider nicht übertrieben – fängt oft schon Im Kindergarten an 🙁

    • Ja, wie furchtbar! Wir haben mit unserem Kindergarten Glück. Darüber bin ich sehr, sehr dankbar.

  8. Keine Ahnung ob das so ist.

    Ich habe schon im Referendariat in integrativen Klassen gearbeitet und später auch. Ich habe es geliebt. Eltern mit Ressentiments habe ich auch nicht kennen gelernt. Es hat sich niemand beschwert. Edenalls nicht bei mir. Und für alle, die davor Angst haben: Eine integrative Klasse ist toll. Es muss keiner zurück stecken. Es sei denn, es wird an Personal gespart. Wenn man also auf die Barrikaden gehen möchte, dann, wenn kein Sonderpädagoge oder kein zweiter Kollege mit Erfahrung in der Klasse ist.

    • Liebe Beatrice, leider kenne ich Geschichten von Eltern, die sich beschweren. Und ich finde es sehr, sehr schade und schäme mich ein wenig fremd. Wunderbar, dass du diese Erfahrungen nicht gemacht hast. Liebe Grüße

Write A Comment