Meine beste Freundin arbeitete in Berlin im Büro von Frau Prof. Rita Süssmuth und so bekam ich die Gelegenheit, die beeindruckende Politikerin am Telefon zu interviewen. Wir haben über Frauenrechte und Gleichberechtigung gesprochen und die Forderung, dass sich endlich etwas ändern muss. Das Gespräch fand im September 2019 statt, ist nun aber angesichts der Tatsache, dass in der Corona-Krise viele Frauen die Hauptlast der Familien-Organisation schultern, aktueller denn je. Laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie sind Mütter doppelt benachteiligt: gegenüber Männern und kinderlosen Frauen. „Corona könnte das noch verschärfen“, lautet das Ergebnis, das in der Zeit vorgestellt wurde.
Interview mit Prof. Dr. Rita Süssmuth
Seit nunmehr 100 Jahren haben Frauen das Wahlrecht, aber in Sachen Gleichberechtigung gibt es immer noch viel zu tun: Große Lohnunterschiede, patriarchale Strukturen in Politik und Wirtschaft, die Last der Familienverantwortung und drohende Altersarmut machen Frauen das Leben schwer. CDU-Politikerin Prof. Rita Süssmuth, ehemalige Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit (ab 1986 Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit) und von 1988-1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages, spricht darüber, warum es so schwer ist, in Deutschland gute Ideen auch in Taten umzusetzen.
Laura Fröhlich: Noch immer kümmern sich viele Mütter um die Familie und sind dabei mental überlastet und finanziell von ihrem Partner abhängig. Das Thema wird öffentlich besprochen, aber wie können wir endlich etwas bewirken?
Rita Süssmuth: Es geht darum, Gegenbilder aufzubauen. Die Mutterrolle ist in vielen Köpfen nach wie vor in alten Klischees verhaftet. Mütter mit Kindern unter drei Jahren bleiben am besten zuhause. Dieses Bild hält sich hartnäckig und wird auch in der Politik weiter transportiert. Viele Mütter sehen sich mit ihrer Entscheidung, zuhause zu bleiben, als Kämpferinnen für Kinder. Sie konzentrieren sich so auf die traditionelle Rolle und sind damit den Ungleichheiten des Alltags weniger ausgesetzt.
Fröhlich: Warum gibt es ihrer Meinung so viel Zurückhaltung, wenn Frauen dazu aufgerufen werden, für mehr Macht zu kämpfen? Fehlt den Frauen der Mut?
Süssmuth: Frauen und Mütter sind in diesen Kampf um Veränderungen bisher zu wenig eingebunden gewesen. Arbeiter- und Gewerkschaftsfrauen haben im 19. und 20. Jahrhundert im Kampf um mehr Rechte den ersten Schritt gemacht und das aktive und passive Wahlrecht erkämpft. Meine persönliche Erfahrung ist: wir haben immer nur etwas bekommen, wenn sich Frauen zusammengeschlossen und Druck gemacht haben. Wenn der Druck nicht da ist, warum soll sich was verändern?
Fröhlich: In Island oder in der Schweiz sind Frauen auf die Straße gegangen, um für bessere Bezahlung und für eine bessere Rentenvorsorge zu kämpfen. Ist das auch in Deutschland denkbar?
Süssmuth: Ich erlebe bei frauenpolitischen Veranstaltungen, dass sie heute wacher und entschlossener sind, um für ihre Rechte zu kämpfen. Ich komme regelmäßig zu Veranstaltungen, die gut besucht sind mit emanzipierten und motivierten Frauen. Das war früher nicht in diesem Ausmaß der Fall. Aber es fehlen die Anführerinnen – den vielen konstruktiven, guten Ideen müssen auch Taten folgen.
Wir brauchen heute nicht in erster Linie die Erweiterung der Frauenrechte, sondern eine Veränderung der Strukturen. Es war in diesem Jahr die Gewerkschaft IG Metall, die darauf hingewiesen hat, dass es bei den Verhandlungen nicht nur um Lohn, sondern auch um Zeit für die Familie und damit um familienfreundlichere Arbeitszeiten geht.
Außerdem haben wir heute nur für 33% der Kleinsten einen Betreuungsplatz. Eine Welt voller Wiedersprüche: Wir klagen seit Jahrzehnten über die Altersarmut von Frauen, bieten jedoch keine strukturellen Veränderungen in der Betreuung von Kindern und in der damit einhergehenden Erwerbsmöglichkeit vieler Frauen an. Es geht darum, dass wir nicht das alte Klagelied verstärken, sondern nun endlich Taten folgen lassen!
Fröhlich: Wie können wir die nächsten, radikaleren Schritte gehen?
Süssmuth: Frauennetzwerke müssen diese Frage angehen. Sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert sowie während des Ersten Weltkrieges ist es geschafft worden, die Frauen zu mobilisieren. Sie waren zu Tausenden auf der Straße, sind weiteste Wege in einfachster Kleidung gegangen, kamen aus Fabriken, in denen sie unter schwersten Bedingungen gearbeitet haben, oder waren arbeitslos. In jüngster Vergangenheit habe ich eine wiedererstarkende Bereitschaft zur Kenntnis genommen, die Parität nicht nur zu fordert, sondern auch für sie kämpft. Die meisten Frauen wollen nicht im alten Zustand verharren.
Wir dürfen uns nicht in die Rolle der Erlöserin begeben, sondern müssen gemeinsam positive Veränderungen erarbeiten. Wenn eine Frau erwerbstätig ist, dann sind bereits die Kindergartenöffnungszeiten für sie ein Problem, um nur ein Beispiel zu nennen. Es sind strukturelle Veränderungen, die wir brauchen. Natürlich kann eine Frau individuell über ihr gewünschtes Lebensmodell entscheiden; soziale Sicherheit im Kontext bedarf jedoch Veränderung. Wir brauchen Diskussionen auf politischer und privater Ebene.
Wir müssen Strukturen schaffen, die es ermöglichen, dass sich mit der Geburt eines Kindes nicht gleich alle Forderungen in Schall und Rauch auflösen. Als 1949 die Bundesrepublik wieder aufgebaut wurde, bekamen die Bauern eine Ersatzkraft, wenn sie in den Bundestag zogen. So muss auch bei Frauen für Ersatz gesorgt werden, wenn sie erwerbstätig sein wollen. Ein Lösungsansatz ist, dass wir ganztägige Kinderbetreuungsplätze anbieten, sodass Kindererziehung, Familie, Haushalt, Freizeitaktivitäten und Berufstätigkeit zur eigenen Zufriedenheit unter einen Hut gebracht werden können.
Fröhlich: Kinderbetreuung durch andere Menschen als die eigenen Eltern hat in Deutschland einen schlechten Ruf, vor allem, wenn die Kinder kleiner sind. Liegt das daran, dass in der Nachkriegs- Politik im Westen Deutschlands Erziehung zur Privatsache und damit zur Angelegenheit der Mutter erklärt wurde? Was sagen Sie als Professorin für Erziehungswissenschaften dazu?
Süssmuth: Pädiater, Kinderärzte und Psychologen, auch die gesamte Freud-Schule, bekräftigte damals den Satz: „Von Null bis Drei Jahren gehört das Kind zur Mutter. Es sind die alten Rollenbilder von der angeborenen Mütterlichkeit, die unsere Betrachtung der familienerweiternden und – ergänzenden Betreuung zu lange geprägt haben und die dann auch zu Vorwürfen führen: „Du wirst doch dein Kind nicht auch nachmittags in den Kindergarten schicken?“ Das ist heute anders: Heute mangelt es an der Quantität, die Plätze fehlen.
Die Haushaltstätigkeiten müssen sein, aber es hält sich nach wie vor nur eine, wenn auch wachsende, Minderheit von Männern dafür bereit, in diesem Aufgabenfeld mehr Verantwortung zu übernehmen. Ohne die tatkräftige Unterstützung meines Mannes hätte ich meinen Beruf nicht derart ausüben können. Der Anteil der Väter, die heute bereit sind, mindestens zwei Monate Elternzeit zu nehmen, wird größer. Warum weiten wir das nicht aus? Vielleicht gibt es irgendwann das Lied von der Unverzichtbarkeit des Vaters für das Kind.
Langsam sehen wir die Veränderung. Es sind immerhin über 70% der Frauen erwerbstätig. Wir können nur nicht zulassen, dass Frauen weiterhin in diesen prekären und geringfügigen Arbeitsverhältnissen ohne Rentenvorsorge beschäftigt werden. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, uns auf dem bereits Erreichten auszuruhen.
Arbeiten in Teilzeit funktioniert für bestimmte Lebensabschnitte, wenn diese Teilzeit in Kinder- oder Angehörigenpflege begründet ist. Die holländischen Frauen haben weit weniger Probleme als unsere deutschen Frauen. Sie wissen, dass es einen Ausgleich für die Zeit, die sie nicht erwerbstätig sind, gibt. Bei uns haben wir das Müttergeld. Das irritiert mich eher. Frauen werden gerne mit kleinen Häppchen abgespeist.
Wir müssen uns heute fragen: wo stehen wir jetzt und wo müssen wir dringend etwas verändern? Viele Frauen bedauern, dass ihnen, wenn sie aus dem Beruf aussteigen und später wieder hinein möchten, im Bewerbungsprozess die Mutterschaftszeit als Nachteil ausgelegt wird. Wir müssen die Strukturen in unserer Gesellschaft verändern und die Menschen parallel dazu ihr Bewusstsein und ihre Haltung. Das Leben ohne Taten können wir so nicht mehr weiterführen.