Ich öffne die Kühlschranktür, denn mir ist heiß. Gerade sind wir vom See gekommen und ich möchte mir ein kühles Getränk holen. „Na, wie ist es so?“, fragt mich eine mir bekannte Stimme im isländischen Dialekt. „Hallo, Sigurdsson“, sage ich. Ich bin froh, dass ich ihn mitgenommen habe, den halb vollen Becher mit Skyr. Das mache ich immer so, wenn wir in den Urlaub fahren. Ganz am Schluss packe ich alle Lebensmittel, die übrig geblieben sind, in eine Kühltasche und die nehmen wir mit in die Ferienwohnung.
„Ach Sigurdsson, ich bin gestresst wie immer, obwohl doch Urlaub ist,“, beklage ich mich und trinke bei offener Kühlschranktür einen Schluck kühle Limo. Sie tut gut, die kalte Luft. Mit sehnlichem Blick schaue ich auf die Winterlandschaft hinter Sigurdsson und auf seinen wolligen Norwegerpullover. „Wieso das denn?“, will der schöne Mann auf dem Skyr-Becher wissen. „Ach weißt du, die Kinder sind auch hier immerzu laut. Auch jetzt streiten sie und auch jetzt jammern sie rum, obwohl wir doch im schönen Allgäu sind“, erzähle ich. „Zum Beispiel heute: wir sind bei strahlendem Sonnenschein zum See gefahren und es hätte alles so schön sein können. Jimmy saß nölend im Auto, weil er lieber ein Fußballpiel geguckt hätte. Wir haben hier in der Ferienwohnung ein Bundesliga-Premium-Paket von Sky und könnten theoretisch den ganzen Tag Bundesliga-Spiele schauen, für Jimmy ein Geschenk des Himmels. Heute Nachmittag kam wohl eines der wichtigsten Spiele der Saison. Um halb vier wollte er in der Wohnung sitzen, die XXL-Lakritzdose von der Oma auf dem Schoß und dann das Fußballduell sehen. Wir anderen wollten aber mit dem neuen Stand-Up-Paddling-Boot raus zum schönen Speichersee.“
„Ach, dein Sohn liebt Fußball? Ich auch. Wir haben hier in Island eine tolle Nationalmannschaft, die hat sogar bei der Weltmeisterschaft 2018 mitgemacht. Jón Daði Böðvarsson ist ein exzellenter Stürmer,“ sagt Sigurdsson, ohne auf meine Beschwerde einzugehen. Na toll, denke ich, immer geht es nur um Fußball! „Jedenfalls ging es dann am See so weiter. Während wir die Decken ausbreiteten und das Boot aufpumpten, haben Jimmy und Luise erst gestritten, wer zuerst die Tauchermaske tragen darf, dann wer den ersten Doppelkeks bekommt, wer die grünen Badeschlappen trägt und wer das Ruder vom Boot nehme darf. Dabei haben sie so laut geschrieen, dass alle Leute um uns herum geschaut haben. Bevor wir kamen herrschte Ruhe am See. Danach war ein einziges Geschrei zu hören. „Aber was hast du denn erwartet?“, fragt Sigurdsson erstaunt. „Glaubst du, deine Kinder benehmen sich anders, bloß weil du Urlaub hast?“ Nein, da gebe ich Sigurdsson recht, natürlich ist alles wie zuhause. Aber ich hatte es mir so schön vorgestellt. Irgendwie fiebern wir Erwachsene auf den Urlaub hin, sehen uns nach Ruhe und Erholung und sind dann erschüttert, weil in der Ferne alles so ist wie sonst auch. „Es gibt kein Entkommen“, murmele ich.
„Weißt du Sigurdsson, am liebsten würde ich Urlaub bei dir machen. Ich brauche keine Sonnencreme, nur ein paar dicke Pullover. Es herrscht endlose Ruhe, es gibt kein Kind weit und breit, das etwas von mir will, sondern nur die verschneite Landschaft und die Hütte. Danach sehne ich mich eigentlich so sehr, das glaubst du nicht.“ Sigurdsson nickt nun doch. „Du weißt, die Einladung steht“, sagt er in seinem lustigen Dialekt. „Ich vermute aber, die Kinder würden dir schnell fehlen.“ Ob er recht hat? Vermutlich schon, auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt, als könnte ich das Wutgeschrei von Luise vermissen, das ertönt, wenn sie auf ihren Bruder losgeht. Oder Oskars Brüllen, wenn er mal wieder völlig übermüdet ist. Andererseits birgt ein Urlaub mit Kindern auch die Momente, die mehr Glück als alles andere bedeuten. Wenn meine drei Wilden auf dem Berg stehen, Arm in Arm, und sich einfach mal vertragen. Wenn ich mit dem Stand-Up-Paddelbrett über den See paddle und der kleine Oskar andächtig auf dem Brett sitzt und in die Ferne schaut. Wenn ich auf dem riesen Trampolin liege, in den Himmel schaue und Luise und Oskar um mich herum hüpfen. Sigurdsson deutet auf eine Flasche, die in der Kühlschranktür steht. Seltsam, die habe ich doch gar nicht mitgenommen oder eingekauft… „Nimm einen Schluck daraus, das ist isländischer Schnaps. Brennivín wird er genannt, den habe ich dir mitgebracht!“ Ich nehme einen hochprozentigen Schluck und nicke Sigurdsson zu. „Danke, ich werde wohl mal darüber nachdenken, ob ich von einem Urlaub mit Kindern vielleicht das Falsche erwarte.“
„Leggja Höfuðið í Bleyti, sagt man bei uns in Island. Das heißt so viel wie leg deinen Kopf ins Wasser. Kinder sind eben Kinder! Deinen Sohn würde ich übrigens gerne mal kennenlernen. Ich bin ja auch kein Mann für heiße Tage am See, einen gepflegte Nachmittag vor dem Fernseher ziehe ich jedem Sonnenbrand vor. Und falls du Ruhe suchst, du weißt, wo du mich findest,“ sagt Sigurdsson. Ich nehme noch einen Schluck Brennivín und ich schließe die Kühlschranktür. Von Weitem höre ich Jimmy und Luise streiten. Ich lege mich neben Anton in den Liegestuhl auf dem Balkon, stecke mir Kopfhörer in die Ohren und mache die Augen zu. So gehts eigentlich.