(Werbung – unbezahlt) Unser lieber Struwwelpeter – was Mezut Özil gerade erlebt, ist für ihn Firlefanz. Jedes Jahr wird er mehrere Male von einem wahren Shitstorm der Eltern übergossen, die aus pädagogischen Gesichtspunkten Daumen abschneiden und in Tintenfässer tauchen für abscheuliche Gräueltaten halten. Da werden die Fahnen der bedürfnisorientierten Erziehung hochgehalten und entsetzt postuliert, dass ein Kind sich sehr wohl dafür entscheiden dürfe, seine Suppe zu verweigern. Am Ende schreibt einer, wenn die Mama dem kleinen Konrad von Anfang an einen plastikfreien Kirschkernschnuller angeboten hätte, dann wäre die Sache mit dem Schneider garantiert auch nicht so eskaliert.
Ich möchte hier eine Sache anmerken: könnte es sein, dass die Eltern da draußen das Buch vielleicht ein wenig missverstanden haben? Und wieso lieben die Kinder die finsteren Geschichten rund um böse Buben und zündelnde Mädchen so sehr? Warum verkauft sich das Werk dennoch tausendfach, obwohl Helikopter-Eltern vielerorts angesichts der schwarzen Pädagogik Herzklabastern kriegen?
Warum der Struwwelpeter den Shitstorm nicht verdient hat
Ich glaube, dass das Buch ganz wertvoll ist. Ich verrate dir in diesem Text auch, wieso. Wir lieben nämlich den Struwwelpeter. Geschenkt hat uns unsere Ausgabe (Affiliate Link) die Oma. Ehrlich gesagt war auch ich erst einmal schockiert, als ich die Geschichten mit den Kindern las. Die Bilder kamen mir aus meiner Kindheit bekannt vor, die Verse wie „Konrad, sprach die Frau Mama…“ konnte ich mitsprechen. Ein Kind, das seine Suppe verweigert, stirbt nach ein paar Tagen, auch Paulinchen mit dem Feuerzeug verbrennt, weil sie nicht auf Mutters Worte hört. Es werden Buben ins Tintenfass getaucht, der Jäger vom Hasen erschossen. Tatsächlich, wir haben kein anderes Kinderbuch, in dem so viel gestorben wird. Aber Luise, damals drei, war fasziniert. Sie wollte immer wieder die Geschichten hören – die grauseligste mit dem Schneider war ihre liebste. Bald schon konnte sie sie auswendig aufsagen und murmelte sie Baby Oskar vor, der ihr mit offenem Mündchen zuhörte.
Kinder und das Böse
Kinder lieben es, sich zu gruseln. Und sie sind fasziniert vom Bösen. Angela Gutzeit schreibt auf der Seite des Deutschlandfunks (tolle Inhalte, tolle Podcasts), dass es im Buch um genau dieses Thema geht. Und Erwachsene fänden es undenkbar, dass sich Kinder an der Darstellung des Bösen und der Darstellung von Gewalt vergnügen könnten. Ich selber mache die Erfahrung, dass Kinder nicht nur fasziniert, sonder auch sehr wissbegierig sind, wenn es um schlimme Ereignisse geht. Wieso der böse Hitler den Krieg angefangen hat, das hat mich Jimmy schon oft gefragt. Warum macht der Mann das, tönt es von hinten im Auto, als wir im Radio zufällig die Nachrichten hören, in denen von einem Verbrecher die Rede ist. Die Kinder fragen das oft sehr sachlich und ich glaube, sie ordnen für sich die Welt ein wenig ein. Denn irgendwann kommen auch Kindergartenkinder an einen Punkt, in dem sie erleben, dass es Menschen gibt, die Schlimmes tun. Sie tun ja selber manchmal Dinge, die nicht in Ordnung sind. Ab und zu überkommt sie die Lust, ein wenig böse zu sein. Da wird der Freundin die Puppe weggenommen, das Nachbarskind gebissen oder eine Bastelei kaputt gemacht. Meist sieht man wenig später das Entsetzen über sich selbst in ihren Augen. Ganz ehrlich, wer von uns kennt nicht das Gefühl, der angeberischen Spielplatzmutter mal ihren Latte Macchiato über den Latz zu schütten? Das Böse gehört zu uns Menschen dazu und den Kindern das zu verbergen, macht ihre Schuldgefühle größer. Bei uns als Eltern liegt es daran mit ihnen zu üben, dieser Lust, einem anderen zu schaden, nicht nachzugeben. Und wir können den Kindern Stück für Stück beibringen, sich in andere hinein zu versetzen und Verständnis zu haben.
Lust am Gruseln
Bei Luise ist es so, dass sich die Lust am Lesen und am Betrachten der Bilder mit einem angenehmen Gruseln vermischt, wie Ulrich Wiedmann in einem Nachwort an die Eltern in unserer Ausgabe des Struwwelpeters beschreibt: „Diese kitzelnde Mischung aus Vergnügen und einem gewissen wohligen Schaudern ist wohl eines der Geheimnisse des lang anhaltenden Erfolgs des Büchleins.“
Kinder haben also Spaß an den Geschichten, weil da Gruseliges geschieht. Manchmal bekommen sie auch Angst und möchten den Struwwelpeter nicht mehr lesen. Mit fünf Jahren mag Luise die Geschichte vom Daumenlutscherbub nicht mehr und das Buch liegt wochenlang im Regal. Manchmal kommt sie dann doch an, kuschelt sich zu mir auf den Schoß und wir klappen das Büchlein auf. Sie überwindet ihre Angst und das ist ein Effekt, den die Alten Griechen Katharsis nannten, also Reinigung. Mit Märchen wie diesen verhelfen sich Kinder dazu, mit ihrer Angst fertig zu werden. Hoffmann hat zu diesem Zwecke extra kleine Ablenkungsmanöver in seine Bilder gemalt, zum Beispiel eine kleine Maus in der Paulinchen-Geschichte, darauf verweist Ulrich Wiedmann in seinem Nachwort.
Weißt du was, unsere Kinder haben ein tolles Entwicklungsprogramm in sich gespeichert, das wie von selbst abläuft. Sie üben also von klein auf, ihre Angst zu überwinden. Sie klettern auf Bäume, springen herunter, sie nähern sich einem Tier oder versuchen sich an anderen Grenzerfahrungen. Sie machen das sogar ganz gut und es passiert selten etwas, so lange wir Eltern nicht laufend eingreifen, sie laut warnen oder ihnen das Bäume klettern verbieten. Auch aus diesem Grund sind sie fasziniert von Sachen, die Angst machen. Der Struwwelpeter oder die Märchen der Gebrüder Grimm sind für die Kinder eine gute Möglichkeit, sich selbst mit ihrer Angst zu konfrontieren oder sich dem Bösen zu stellen. Im Übrigen bin ich keinesfalls der Meinung, dass das gegen ihren Willen geschehen soll. Es gibt auch für Märchen Altersempfehlungen und jedes Kind, das von Rotkäppchen nichts hören will, darf getrost darauf verzichten. Ich finde auch nicht, dass jedes Kind den Struwwelpeter kennen muss. Viel schlimmer als Struwwelpeter und sämtliche meuchelnden Märchengeschichten finde ich jedoch viele Zeichentrickserien, die im Vorabendprogramm im Fernsehen laufen und deren Inhalte Eltern nicht so sehr auf die Palme bringen. Die grauenhaften Geschlechterklischees in „Feuerwehrmann Sam“, die brutalen Szenen in der Serie „My little pony“ oder die oft stupiden Plots in lieblos zusammengeschusterten Dauerserien im Kinderkanal – schnelle Bilderabfolgen mit fragwürdiger Aussage halte ich für schädlicher als die morbiden Storys in den alten Klassikern. Denn Bilderbücher brennen sich nicht auf diese Weise in die Seele ein, wie bewegte Bilder im Fernsehen. (Meine Kinder lieben im Übrigen genannte Serien sehr und sie dürfen sie auch ab und zu gucken…, ich will hier nicht den Fernseh-Apostel spielen)
Lehre über die Moral
Jimmy mochte die Geschichte vom Konrad noch nie, aber er mag ein paar der anderen Kapitel. Bei uns jedenfalls hat der Struwwelpeter schon zu vielen guten Unterhaltungen geführt. Schulkind Jimmy findet zum Beispiel den Hasen super, der den Jäger erschießt. Diese Umkehrung der Macht fasziniert ihn, er liebt das Lied „Gegenteiltag“ und träumt davon, dass einmal die Kinder bestimmen dürfen, was die Erwachsenen machen. Warum haben manche Menschen Macht über andere und wieso darf überhaupt ein Jäger den Hasen bedrohen? Ist es nicht gut, wenn sich das alles mal umdreht?
Mit den Geschichten des Struwwelpeters diskutieren wir, warum es nicht in Ordnung ist, Menschen mit dunkler Hautfarbe auszulachen, ja sie überhaupt nur darauf anzusprechen. Auch das Wort „Mohr“ erkläre ich genauer, denn wir lesen zwar auch Jim Knopf im Originalwortlaut, aber nie, ohne uns gegenseitig zu erinnern, dass das Wort „Neger“ heute überhaupt nicht mehr in Ordnung ist. Die Klassiker müssen wir immer im Zeitrahmen ihrer Entstehung sehen. Und das lernen die Kinder auf diese Weise ganz gut. Dann gibt es da noch das Thema Obrigkeiten. Ist es nicht manchmal wichtig, der Obrigkeit zu gehorchen? Jimmy hat mich neulich gefragt, warum wir auf die Polizei hören müssen. Das hat uns zum Thema Rechtssaat und Sicherheit gelenkt, natürlich diskutierten wir kindgemäß. Aber wir haben auch besprochen, warum es nötig sein kann, einer Obrigkeit auch einmal zu widersprechen. Das zum Beispiel findet statt in der Geschichte vom Hans Guck-in-die-Luft. Wie gefährlich es sein kann, nicht zur Seite zu blicken und blind irgendwelchen Fanatikern hinterher zu rennen, wie es in unserer Gesellschaft derzeit leider oft passiert, das ist übrigens in Jan Böhmermanns kleinem Filmchen zum Struwwelpeter aufs genialste beschrieben.
Jan Böhmermanns Struwwelpeter – ein Geniestreich
Wo wir gerade von Jan Böhmermann sprechen, du musst dir unbedingt dieses Video anschauen. Hier werden Eltern aufs Korn genommen und ich fands köstlich, kenne ich doch jeden dieser Pappenheimer. Haben wir nicht alle solche Typen in den Kindergarten-Elternabenden sitzen, die am liebsten selber kochen möchten und ihr Kinder laufend in Watte packen? Ich finde, in Sachen Elterntypen muss ein bisschen Spaß sein…
In vier zeitgemäß inszenierten, pädagogisch wertvollen „Struwwelpeter“-Episoden erzählt „Dr. Böhmermann“ von Übermütigen, Ängstlichen, Erfolgstypen, Abgehängten, Ehrgeizigen und der auch 150 Jahre nach Heinrich Hoffmann immer noch gültigen Weisheit, dass alle Eltern nur das Beste für ihre Kinder wollen,
heißt die Beschreibung des Films. Und daher wende ich mich nun an die Eltern: bitte versteht den Struwwelpeter nicht als moralische Belehrung, die darin besteht, dass Strafandrohung Kinder auf den richtigen Weg bringt (vgl. Deutschlandfunk, Angela Gutzeit), denn sogar Dr. Heinrich Hoffmann hat das Buch damals nicht in erster Linie mit der Intention geschrieben, sein Kind zu erziehen. Wir müssen ihm vielmehr dankbar sein, denn genau genommen ist ER der Erfinder des illustrierten Kinderbuchs. Er wollte seinem kleinen Sohn zu Weihnachten eine Freude machen und hat kein Bilderbuch gefunden. Darum hat er kurzerhand selbst eines geschrieben. Er hat die Geschichten Märchen genannt und wollte damit vor allem sein Kind unterhalten. Als Arzt, der auch Kinder behandelte, war er in der Psychatrie tätig und legte dort den Grundstein für einen humanen Umgang mit psychisch kranken Menschen. Ganz sicher wollte der Arzt seinem Sohn mit dem Buch auch ein paar Tipps fürs Leben mitgeben (nicht zündeln, auf den Weg achten…), aber natürlich war die Erziehung damals eine ganz andere. Wenn wir das Buch heute als missglückten Erziehungsratgeber betrachten, dann wäre das ungefähr so, als würde im Bundestag der Sinn und Zweck von Daumenschrauben im Polizeiverhör besprochen – solche Methoden haben wir ja zum Glück hinter uns gebracht und sie haben in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr.
Erziehung heute
Zum Glück verbreitet sich immer mehr die These, dass Erziehung durch Beziehung ersetzt wird. Wir müssen die Kinder nicht erziehen, also in eine Richtung ziehen, wir müssen vielmehr mit ihnen in Beziehung leben. Strafen und Drohungen, so erleben es viele Eltern, verfehlen doch sowieso ihren Sinn und als Mutter mache die Erfahrung, dass Konsequenzen wie Taschengeldentzug oder Medienverbot das bestrafte Kind nur noch mehr erzürnen. Daher halte ich grundsätzlich nichts von Strafen, aber das soll hier nur meine Meinung sein.
Der Stuwwelpeter wird unsere Kinder nicht schrecken, weil sie wissen, dass es nicht auf sie bezogen ist. Die Kinder sind in diesem Buch keine Identifikationsfiguren: „Das ist die Magie des Struwwelpeter-Bildes. Es zeigt das Gegenkind schlechthin“, schreibt der Germanist Peter von Matt. Und unsere Kinder sind schlau genug zu erkennen, dass wir nicht so sind wie Konrads Frau Mama oder all die anderen Erwachsenen im Buch. Im Übrigen passierte bei uns noch folgendes: Anton, der immer darum bemüht ist, dass die Kinder genug essen, konnte es sich nicht verkneifen, auf den armen Suppenkasper zu verweisen. Jimmy, mit dem ich zuvor darüber gesprochen hatte, dass es totaler Quatsch ist und kein Kind innerhalb von fünf Tagen verhungern kann, schreckte das nicht. So geschah es, dass der Stuwwelpeter sogar zur Aufklärung beitrug, als sich Anton hinreißen ließ, altmodisch daher zu reden.
Übrigens gabs neulich auf Rike Drusts Facebook-Seite eine Diskussion über den Stuwwelpeter. Schau mal rein! Und das alles ist immer eine Frage der Sichtweise und vor allem, wie Eltern mit ihren Kindern das Buch lesen. Wir lassen es zur Zeit im Schrank. Wenn eines der Kinder kommt und sich mit uns gruseln oder über tiefer gehende Fragen diskutieren will, machen wir uns einen Kakao, kuscheln uns aufs Sofa und lesen die Reime. Meist kennen wir sie sowieso auswendig. Ich zitiere aus dem verlinkten Text vom Deutschlandfunk:
Entscheidend sei bei dem, was Kinder lesen oder vorgelesen bekommen, die Rezeptionslenkung durch die Erwachsenen, so sagte Hans-Heino Ewers. Also, auf unsere Art der Vermittlung kommt es an, ob Kinder souverän mit der Lektüre umgehen oder vor Schreck erstarren. Und das gilt schließlich nicht nur für den „Struwwelpeter“.
Bleib fröhlich und unperfekt, deine Laura
Lust auf mehr Heute ist Musik? Da nix wie los zu Instagram. Auf meinem Kanal gibts Schönes, Ordentliches und Leckeres. Achso, und natürlich Glitzer im Eltern-Alltag!