Mich erreichte eine Mail von Christine Steinhart, die sich wie viele andere Eltern einschließlich mir über die Situation für Familien in der Corona-Krise ärgert. Sie hat mir einen Text geschickt, den ich hier als Gastbeitrag veröffentlichen darf, und der das Problem skizziert.
Ende April hat das Kultusministerium beschlossen: Ab dem 18. Mai sollen
Kindertageseinrichtungen ihr Betreuungsangebot wieder schrittweise ausbauen – doch
noch immer fehlt dafür jeglicher Plan. Träger und Einrichtungen warten auf ein Signal
der Stadt, die Stadt wartet auf die Rechtverordnung des Landes. Und Eltern warten auf
Informationen – vergeblich.
Seit mittlerweile zwei Monaten sind die Kindertagesstätten aufgrund der Krise geschlossen – eine schwierige Situation für Familien. Erschöpfte Mütter und Väter melden sich nach ihrem Spagat zwischen Kinderbetreuung und Arbeit zu Wort, wütende Mütter schreiben wütende Blogartikel mit Worten, die sie ihren Kindern verbieten würden. Aber nicht nur die Betreuungsarbeit wird für Eltern zur Belastungsprobe. Die wochen- und monatelange Isolation der Kinder ohne Gleichaltrige und ohne den pädagogischen Input der Erzieher ist problematisch. Für Kinder ist die Situation nicht nur langweilig, sie ist aus entwicklungspsychologischer Sicht verheerend. Für Eltern ist sie nicht nur belastend, sondern existenzbedrohend.
In den ersten Wochen des Shutdowns wurden Familien von der Politik wenig beachtet. Während der Schulbetrieb sehr wohl thematisiert wurde, spielten Kindergärten und Kitas als Bildungseinrichtung keine Rolle. Ende April kam dann kurz das Gefühl auf, dass jetzt endlich auch die Familien mit kleinen Kindern ins Sichtfeld des öffentlichen Interesses rücken: Kitas sollten schrittweise wieder geöffnet werden, die Familienminister von Bund und Ländern legten einen Vier-Stufen-Plan vor: Notbetreuung, erweiterte Notbetreuung, eingeschränkter Regelbetrieb, Rückkehr zum Normalbetrieb. Es müsse für alle eine Perspektive geben, so Familienministerin Giffey. „Ein wichtiges und gutes Signal für die Familien“ nannte sie, die Außenseiterin in Merkels Corona-Runde, den Vorstoß. Am 6. Mai teilte die Kultusministerin Susanne Eisenmann in Baden-Württemberg mit, dass die Betreuung in Kindertageseinrichtungen ab dem 18. Mai 2020 auf bis zu 50 Prozent der Kinder ausgeweitet werden soll. Für die Umsetzung vor Ort und die Konzepte dafür seien die Kommunen, Träger und Einrichtungen in eigener Zuständigkeit verantwortlich. Ein großes Versprechen, ein Aufatmen für viele Eltern, ein Lichtblick für die Kinder. Familien hatten das Gefühl, als hätte man sie endlich gehört.
Dafür erntete das Kultusministerium viel Kritik: Die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Doro Moritz, bezeichnete es als verantwortungslos, die Kitas ab dem 18. Mai weiter zu öffnen, da es kein Konzept für die angekündigte Betreuung von bis zu 50 Prozent der Kinder gebe. Ein weiterer Vorwurf kommt von SPD-Chef Andreas Stoch: Die Kultusministerin lasse die Kommunen im Stich.
Welche Kinder von der schrittweisen Öffnung profitieren sollen, ist bis heute völlig unklar. Für Eltern ist wenig transparent, wer die Fäden in der Hand hält. In diesem Informationsvakuum wenden sich die Eltern zunächst an die Einrichtung selbst, die den Eltern aber keine Auskunft geben kann. Die Einrichtungen verweisen auf die Träger und die Träger verweisen auf die Kommunen – sie haben die Entscheidungshoheit darüber, wer aktuell Anspruch auf Notbetreuung hat und wer nicht. Die Kommunen wiederum warten noch immer auf eine Rechtsverordnung des Landes.
Das Geheimnis um den erweiterten Regelbetrieb
Gestern war der 18. Mai 2020 – wie der erweiterte Regelbetrieb oder die Ausweitung auf bis zu 50 Prozent der Kinder aussehen soll, ist ein großes Rätsel, auf das wohl weder die Einrichtungen, Träger, Kommunen noch das Land eine Antwort haben. Wer sind die 50 Prozent der Kinder? Zunächst die Kinder mit den systemrelevanten Eltern, dann die Kinder, mit Eltern, die am Arbeitsplatz unentbehrlich sind, soweit sind wir schon. Dann die Vorschüler? Oder Kinder mit besonderem Förderbedarf? Und wird dann gewürfelt, wer noch rein darf? So fängt bei den Eltern das große Spekulieren an. Die meisten erklären, dass sie nicht damit rechnen, dass vor den Sommerferien noch etwas passiert. Die Wut, die noch vor einigen Wochen so deutlich zu spüren war, ist verpufft. Es fühlt sich nach Kapitulation an.
Nicht erst seit heute fragen sich sehr viele Eltern, wie es weitergeht. Wir Frauen, die die Hauptlast der Betreuungsarbeit tragen, fragen uns das, weil wir Jobs haben oder hatten, die Anforderungen an uns stellen, zu denen wir zurückkehren wollen oder müssen, um unser Einkommen und das unserer Familien zu sichern. Wir Eltern müssen nochmals an die Forderung erinnern, die Situation der Familien nicht zur Privatsache zu erklären. Die Erschöpfung von Müttern und Vätern muss ernst genommen, das Recht von Kindern auf Bildung muss respektiert werden und darf nicht auf die Schulbildung reduziert sein. Wir Eltern brauchen konkrete Perspektiven, klare Ansagen von Land, Kommunen, Trägern und Einrichtungen, einen Fahrplan mit Zeitangaben, selbstverständlich gekoppelt an die Pandemieentwicklung.
Besonders absurd wird das Ganze, wenn man die Situation vor dem Hintergrund der Lockerungen in anderen Bereichen betrachtet. Man braucht hier nicht einmal den ausgelutschten Vergleich mit der Bundesliga zu bemühen. Ab Juni sollen private Feste ab 100 Personen wieder erlaubt sein. Wie wäre es also, wenn wir jeden Tag einen großen Kindergeburtstag feiern? Lasst uns alle Eltern, Geschwisterkinder und Großeltern in die Kindergärten einladen – die 100-Personen-Marke würden wir in vielen Einrichtungen selbst dann nicht sprengen.
Christine Steinhart ist freie Texterin und Redakteurin. Aktuell beschäftigt sie sich jedoch rund um die Uhr mit Einhörnern, Eisprinzessinnen und ist täglich auf Schatzsuche unterwegs – wie viele andere ist sie auf unbestimmte Zeit Vollzeit-Mama.