Mein Kind ist ein Träumerle! Eine Psychologin verrät, wie Kinder Konzentration erlernen

Lotte, träumst du schon wieder?

Wir Eltern kennen Stress zur Genüge, aber auch Kinder haben schon viel davon. Das geht ganz besonders los, wenn die Schule beginnt. Vor allem für Kinder, die gerne ihren Träumen nachhängen, ist der Alltag dann schwer zu bewältigen. Was können Eltern tun, wieso sind die Tagträume so wichtig und welche konkreten Tipps gibt es für die Schulzeit?

Ich habe die Psychologin Stefanie Rietzler gefragt, die zusammen mit Psychologe Fabian Grolimund die Akademie für Lerncoaching in Zürich leitet. Mit ihrer Arbeit möchten sie möglichst vielen Kindern, Eltern und Lehrkräften zu einer schönen und entspannten Schulzeit verhelfen. Sie sind Autoren mehrerer Bücher und betreiben die Webseite www.mit-kindern-lernen.ch.

Jetzt gerade ist ihr Buch Lotte, träumst du schon wieder? (Affiliate Link) erschienen, das ich ganz großartig finde. Es richtet sich an Eltern und Kinder, die gerne träumen und liest sich ganz wunderbar. Ich habe mit Stefanie über Schule, Alltag, Stress und Bewältigungsstrategien gesprochen und über das wundervolle Buch, das ich dir sehr ans Herz legen kann.

Laura: Wieso sind Tagträume für Kinder (und Erwachsene) so wichtig? Und wie können auch wir Großen wieder damit anfangen zu träumen (wir schauen ja in jeder freien Minute aufs Handy und der gute, alte Tagtraum kann gar nicht mehr stattfinden)?

Stefanie: Tagträume sind wichtige Auszeiten: Für unsere Psyche und unser Gehirn. Erwachsenen fällt es immer schwerer, sich Momente zu nehmen, in denen sie sich einfach treiben lassen und ihren Gedanken nachhängen. Wir befinden uns viel zu oft im «Ziele-Verfolgen / Pflichten erfüllen / To-Do-Listen abarbeiten»-Modus und wenden uns zur Entspannung wieder etwas wie dem Handy zu, das uns ablenkt, nervös macht und verhindert, dass wir zu uns kommen.

Wir erleben teilweise auch Jugendliche, die uns erzählen, dass sie sich nie ohne schlechtes Gewissen entspannen können, wenn ihre Eltern zu Hause sind: Denn dann sollten sie immer etwas Vernünftiges oder Nützliches tun. Wenn sie ein wenig chillen, mit Freunden telefonieren oder etwas spielen, kommen sofort Fragen der Eltern: «Musst du nicht noch etwas für die Schule erledigen? Du weißt schon, dass du am Freitag noch den Mathe-Test hast? Jetzt hättest du doch Zeit, noch das neue Stück für die Klavierstunde zu üben!»

Tagträume sind aus unterschiedlichen Gründen wichtig: einerseits können wir darin Erlebnisse verarbeiten, uns mit unserer Innenwelt und unseren Gefühlen verbinden, in Zukunftsvorstellungen schwelgen und darüber unsere Wünsche und Bedürfnisse kennenlernen. Tagträume verschaffen aber auch jenen Gehirnregionen eine Pause, die für die Konzentration, das Planen und Organisieren und die bewusste Lenkung unserer Gefühle und unseres Verhaltens zuständig sind. Sind wir hingegen andauernd im Modus, in dem wir Pflichten erfüllen und Ziele verfolgen, fühlen wir uns mit der Zeit ausgelaugt und erschöpft.

Damit wir tagträumen können, benötigen wir unverplante Zeiträume: Ein Wochenendtag ohne Programm, ein Zeitpunkt in der Agenda, der für einen Spaziergang im Wald oder dem Seeufer entlang reserviert ist. Manchmal heisst es aber auch: Kleine Momente der Langeweile oder des Wartens – an der Bushaltestelle, im Restaurant, auf dem Parkplatz im Auto – bewusst wahrzunehmen und zuzulassen ohne sich gleich mit dem Smartphone abzulenken.

Illustrator: Marcus Wilke, aus „Lotte, träumst du schon wieder?“

Laura: Schule bedeutet für Kinder und ihre Eltern oft Stress. Wieso ist das so?

Stefanie: Mit der Schule kommen viele Anforderungen auf Kinder zu. Sie müssen nicht nur lesen, schreiben und rechnen lernen, sondern deutlich mehr: Sich konzentrieren, Aufgaben planen, sich an Regeln unterschiedlicher Lehrkräfte halten, ihren Platz in der Gruppe finden, mit Konkurrenz, Leistungsdruck und Prüfungsstress umgehen, an ihr Material denken, selbständig arbeiten, sich mit Inhalten beschäftigen, die sie auch mal überhaupt nicht interessieren oder ihnen schwer fallen. Dazu kommt, dass die Schultage für viele Kinder heute sehr lange dauern und ein Großteil ihrer ohnehin schon knappen Freizeit auch noch mit Hausaufgaben, Prüfungsvorbereitung oder Förderangeboten zugepflastert ist. Gerade für verträumte Kinder sind die Anforderungen der Schule eine besonders große Herausforderung. Träumerchen sind im Unterricht oft unaufmerksam und arbeiten sehr langsam. Das führt dazu, dass sie das Pensum oft nicht schaffen, zusätzliche Aufgaben für zuhause bekommen oder bereits an den normalen Hausaufgaben mehrere Stunden sitzen.

Laura: Was können wir Eltern für verträumte Kinder tun, um diesen Stress zu reduzieren? Habt ihr Tipps parat, wenn es zum Beispiel um das Thema mangelnde Konzentration bei den Hausaufgaben geht?

Stefanie: Es ist sehr wichtig, dass Eltern das Pensum ihres Kindes im Blick behalten. Wir sehen oft Kinder, die von ihren Hausaufgabenmarathons so erschöpft sind, dass sie sich im Unterricht noch schlechter konzentrieren können, weil sie dort abschalten und sich eine Pause holen. Immer mehr Zeit in die Schule zu investieren löst das Problem nicht – es führt nur dazu, dass die Kinder langfristig schulmüde werden und sich zunehmend verweigern. Sehr gute Erfahrungen haben wir in solchen Fällen damit gemacht, die Hausaufgabenzeit in Absprache mit der Lehrkraft zu begrenzen.

Das könnte beispielsweise so aussehen: Ein Drittklässler erhält ein Hausaufgabenbudget von 30 Minuten pro Tag. Hat er eine halbe Stunde konzentriert gearbeitet, werden die Hausaufgaben abgebrochen. Nun kann man daran arbeiten, die beschränkte Hausaufgabenzeit so effektiv wie möglich einzusetzen: Die Aufgaben in überschaubare Portionen einzuteilen und regelmäßig kurze Pausen einzulegen, in denen sich das Kind beispielsweise kurz bewegt, etwas Musik hört oder eine Kleinigkeit isst. Bei der Prüfungsvorbereitung lässt sich der Druck und das Pensum oft reduzieren, indem man mit dem Kind bessere Lernstrategien einübt.

Laura: Warum fällt vielen Kindern das Konzentrieren schwer und ab welchem Punkt sollten Eltern aktiv werden, weil eventuell eine Lernstörung oder ADHS vorliegen könnte?

Stefanie: Die Fähigkeit, sich bewusst und über einen längeren Zeitraum auf etwas zu fokussieren und Störendes auszublenden, ist eine Fähigkeit, die sich über die gesamte Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein entwickelt. Wie gut ein Kind das kann, hängt von seiner biologischen Grundausstattung, seiner Reife und der Übung ab. Wenn man als Elternteil merkt, dass das eigene Kind oft zerstreut und abwesend wirkt, nicht zuhört, vergesslich und chaotisch ist und stark in seiner eigenen Welt lebt, stellt sich die Frage, wie sehr dies das Leben des Kindes beeinträchtigt. Leidet es beispielsweise darunter, dass es in der Schule schlechte Noten bekommt? Fällt es ihm schwer, unter den Gleichaltrigen Anschluss zu finden? Fühlt es sich ständig unter Druck?

Wenn solche Schwierigkeiten das Kind belasten, sollten die Eltern aktiv werden. Das kann sehr unterschiedlich aussehen: Wenn das Kind noch jünger ist, ist es oft hilfreich, mit der Einschulung noch ein Jahr zuzuwarten, um dem Kind noch eine zusätzliche Reifungszeit zu verschaffen. Eine Diagnostik kann sinnvoll sein, um die Schwierigkeiten des Kindes besser einschätzen und entsprechende Unterstützung anbieten zu können. So könnte ein Kind Konzentrationsprobleme in der Schule haben, weil es über- oder unterfordert ist, eine ADHS vorliegt, es eine spezifische Lernstörung wie eine Legasthenie oder Dyskalkulie aufweist oder im Moment emotional sehr belastet ist. Auch Seh- oder Hörprobleme können zu ähnlichen Schwierigkeiten führen.

Laura: Mit welcher Übung können wir zuhause das Konzentrieren lernen?

Stefanie: Das Wichtigste vorneweg: Kinder lernen nicht, sich zu konzentrieren, indem man sie möglichst lange vor den Aufgaben sitzen lässt. Leider ist dieser Irrglaube noch weit verbreitet. Eltern von verträumten Kindern berichten uns leider immer wieder, dass sogar manche Lehrkräfte dem verträumten Kind die Pause streichen und es nacharbeiten lassen, damit es lernt, in Zukunft speditiver zu arbeiten. Wichtig wäre, dass Kinder sich ganz bewusst vornehmen, sich für einen Moment zu fokussieren – und sich dazu ein Startsignal geben.

Das verträumte Hasenmädchen Lotte in unserem neuen Kinderbuch lernt dazu den Wolfsblick kennen. Die weise Wölfin Sakiba zeigt ihr, wie sie ganz im Hier und Jetzt ankommen und sich bewusst auf eine Aufgabe konzentrieren kann. Dabei helfen Lotte Achtsamkeitsübungen zur fokussierten Aufmerksamkeit. Diese kann man auch mit Kindern spielerisch in den Alltag integrieren. Anregungen dazu gibt es auf www.lottestrickkiste.ch

Illustrator: Marcus Wilke, aus „Lotte, träumst du schon wieder?“

Laura: Für wen ist euer tolles neues Buch Lotte, träumst du schon wieder? (Affiliate Link) geeignet?

Stefanie: Das Buch richtet sich an verträumte Grundschulkinder, ihre Eltern und Lehrer/innen. Die Kinder tauchen in eine spannende Abenteuergeschichte ein und lernen nebenbei wissenschaftlich fundierte Übungen kennen, die ihnen dabei helfen, an Wichtiges zu denken und sich beim Lernen zu konzentrieren. Gleichzeitig entdecken sie, dass Tagträumen eine Stärke ist, die sie sich bewahren dürfen. Für Eltern und Lehrkräfte bietet das Buch die Möglichkeit, sich in ein verträumtes Kind einzufühlen und den Alltag aus seinen Augen zu sehen. Viele Familien, die das Buch bereits gelesen haben, haben uns geschrieben, dass sie sich darin wiedergefunden haben und Lottes Geschichte ein Gesprächsöffner war, der Eltern und Kinder wieder enger zusammenbringt. Das freut uns natürlich sehr!

Laura: Ich habe selber ein „Träumerle“ zuhause. Aus diesem Grund wird es morgens bei uns schnell hektisch, weil das Träumerle ständig abgelenkt ist, anstelle die Zähne zu putzen oder sich anzuziehen. Was können Eltern tun, damit es morgens entspannter ist?

Illustrator: Marcus Wilke, aus „Lotte, träumst du schon wieder?“

Stefanie: Da ergeht es dir wie Lottes Mutter! Während das kleine Hasenmädchen morgens im Bad über dem Waschbecken hängt, mit dem Wasserhahn herumspielt und dabei von Piratenabenteuern träumt, wirbelt ihre Mutter durch die Wohnung und versucht, ihre Tochter pünktlich in die Schule zu bekommen. (Anmerkung Laura: Erwischt!) Es gibt kein Patentrezept für einen entspannten Morgen, aber einige erprobte Möglichkeiten.

Oft hilft es, wenn man morgens so wenig wie möglich erledigen muss. Wenn also die Schulsachen am Abend davor gepackt, die Kleider bereitgelegt und der Frühstückstisch so weit wie möglich gedeckt wird, sodass man nach dem Aufstehen Zeit hat, um den jüngeren Kindern beim Anziehen zu helfen. Träumerchen vergessen oft mitten in einer Tätigkeit, wo sie gerade sind und was der nächste Schritt ist. Entlastung bieten beispielsweise bebilderte Checklisten oder Abläufe, auf denen das Kind sieht, was als nächstes zu tun ist.

Gift sind hingegen ständige Ermahnungen und Hetzerei: Bei Druck von außen flüchten sich verträumte Kinder oft umso mehr in ihre Traumwelt und werden noch langsamer. Wenn es mal schnell gehen muss, hilft es, wenn man mit dem Kind vorgängig geübt hat, sich «schnell wie die Feuerwehr» anzuziehen oder den «Superheldenturbo» einzulegen und sich auf spielerische Weise zu beeilen.

Liebe Stefanie, lieben Dank für die hilfreichen Antworten. Wir haben das Buch zuhause schon gelesen und probieren die Übungen nun im Alltag aus. Ganz besonders wichtig finde ich, dieses Träumen nicht als schlechte Eigenschaft zu sehen, sondern als Quelle von Kreativität und Entspannung. Ich jedenfalls gebe mich nun hoffentlich lieber öfter meinen Träumen hin, als ständig zum Handy zu greifen. Im Kopf finden nämlich meist viel spannendere Geschichten statt!

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